Deutschland steuert nicht in eine nationale Katastrophe

Es gilt die Fluchtursachen zu bekämpfen - ein Zwischenruf

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Gestern war ein denkwürdiger Tag. Erstmals mussten Flüchtlinge auf dem Boden einer Schalterhalle im Münchner Hauptbahnhof übernachten. München war trotz größter Bemühungen angesichts von 13.000 ankommender Flüchtlinge an einem Tag (und 64.000 binnen einer Woche) an seine Grenzen gestoßen. Der erschöpfte Münchner Oberbürgermeister nannte den Grund: Die Bundesregierung und die anderen Bundesländer (mit Ausnahme von NRW) hätten München und Bayern im Regen stehen lassen. Sie waren mit Planen und Reden beschäftigt, wo spontane Hilfe dringend erforderlich gewesen wäre.

Obwohl somit ein bürokratischer Wermutstropfen in den humanitären Wein gefallen ist, zeigt sich der Welt - in den Worten des Bundespräsidenten gesprochen - ein helles Deutschland. Wer gesehen hat, wie München die Flüchtlinge am Hauptbahnhof in Empfang genommen hat, wird diese Bilder nicht mehr vergessen: aufmunterndes Klatschen, ein freundlicher Händedruck, eine Tüte Obst, ein Teddybär über die Absperrgitter hinweg gereicht, als Dank dafür ein Lächeln aus übermüdeten Augen, ein glückliches Kind. Eine junge Helferin sagte, sie behandle die Ankömmlinge so, wie sie behandelt werden möchte, wenn sie in einer vergleichbaren Situation wäre.

Was wir derzeit erleben, ist ein bewundernswertes Gemeinschaftswerk von Hilfsorganisationen, Behörden, Lokalpolitikern, Bahn, Polizei und vor allem von freiwilligen Helfern. Sie zeigen Empathie, Ausdauer und Kreativität. Sie bemühen sich aufopfernd, dass die vielen Tausende, die im Stundentakt unangemeldet auf die Bahnsteige entlassen werden, ein Dach über dem Kopf, eine provisorische Schlafstätte und eine zumindest notdürftige Versorgung vorfinden. Deutsche haben der Welt gezeigt, was Mitgefühl und Humanität leisten können.

Ja, ich bin stolz auf mein Land.

Die große Politik fernab in Berlin hat viel zu lange das getan, was sie hierzulande häufig tut. Sie hat zugeschaut, planlos und ohne erkennbaren Gestaltungswillen. Erst unter dem Druck einer immer nachdenklicher werdenden Öffentlichkeit bemerkt sie allmählich, dass es nicht damit getan ist, vor "Wirtschaftsflüchtlingen" und "Asylbetrügern" zu warnen und über Abwehrmechanismen zu Wasser und zu Land nachzudenken.

Der Not gehorchend hat sie sich zu einem uninspirierten Krisenmanagement ohne Zukunftsperspektive durchgerungen. Wachgerüttelt durch Stimmen aus der Zivilgesellschaft dämmert es mittlerweile den ersten in der politischen Führungsriege, dass die ankommenden Menschenströme die Vorhut einer neuzeitlichen Völkerwanderung sind.

Populistische Panikmache

Auch die deutsche Kanzlerin, angeblich die mächtigste Frau der Welt, hat das getan, was sie am besten kann: abwarten, Stimmungen beobachten, um dann zum spätestmöglichen Zeitpunkt mit Symbolpolitik und gestanzten Sprüchen zu antworten. Zuerst verkündete sie einer hellhörigen Welt, dass das deutsche Asylrecht keine Obergrenze kenne und dass Deutschland in der Lage sei, hunderttausende Flüchtlinge aufzunehmen.

Als sie bemerkte, dass sie damit die Einfallstore für Flüchtlinge scheunenweit geöffnet hatte, ruderte sie erschreckt zurück. Im besten Bürokratendeutsch schränkte sie ihre Verheißung flugs wieder ein: Wer nicht schutzbedürftig ist, hat bei uns "keine Bleibeperspektive". Doch das kam zu spät. Ihre christlichen Parteifreunde reagierten entsetzt. Seehofer: "Merkel bringt Deutschland in eine nicht mehr zu beherrschende Notlage." Ex-Innenminister Friedrich sprach sogar von einer "beispiellosen Fehlleistung".

Diese Bewertungen sind jedoch populistische Panikmache. Nüchterne Zahlen verdeutlichen das. Nach einer Mitteilung der Deutschen Bundesbank haben die deutschen Steuerzahler seit 2008 insgesamt 236 Milliarden Euro für die Bankenrettung bezahlt, ohne dass der Staat daran zerbrochen wäre. Es ist deshalb nicht zu erwarten, dass Deutschland infolge der jüngst beschlossenen Flüchtlingshilfe von 10 Milliarden Euro in den Abgrund stürzen wird, selbst dann nicht, wenn noch Investitionen für Schulen und Wohnungen hinzukommen.

Auch die nackten Flüchtlingszahlen sprechen nicht dafür, dass wir geradewegs in die nationale Katastrophe steuern. Zwar hat Deutschland 2014 mit Abstand die meisten Flüchtlinge in Europa aufgenommen. Gleichwohl liegt Deutschland - gemessen an der Einwohnerzahl - europaweit nur an der sechsten Stelle (2,1 Asylbewerber auf 1000 Einwohner). Schweden (7,8), Ungarn (4,2), Schweiz (2,7), Dänemark und Norwegen (je 2,5) liegen deutlich vor uns.

Außerdem ist die Integrationskraft Deutschlands beachtlich. Nach dem 2. Weltkrieg strömten 12 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene in unser Land. Natürlich, es waren Deutsche, die nach Deutschland kamen. Und sie sprachen unsere Sprache. Doch auch diese mittellosen Menschen mussten integriert werden. Es gelang dank einer weitschauenden Politik.

Ab den fünfziger Jahren wurde Deutschland zusätzlich von Millionen Gastarbeitern überflutet. Allein aus der Türkei kamen mehr als 4 Millionen. Sie fanden hier ihre Heimat. Nach der Wende gab es eine beachtliche Wanderbewegung von Ost nach West. Auch das wurde verkraftet.

Es ging zwar nicht immer problemlos und immer noch gibt es Integrationsdefizite. Aber diese Zuwanderungen haben Deutschland zu dem gemacht, was es heute ist: ein weltoffenes Land mit viel Kraft und mit großer Herzenswärme, wenn Not am Mann ist. Die viel beschworene "German Angst" hat dem deutschen Mut Platz gemacht. Die dadurch gewonnene internationale Wertschätzung ist ein hohes Gut, auf das wir stolz sein können und von dem wir zehren können, wenn wir einmal Hilfe benötigen.

Der bayerische Finanzminister Söder sah kürzlich die "kulturelle Statik" Deutschlands in Gefahr. Was genau soll das sein? Söders Bild ist schief. Denn schon seit Langem gibt es hierzulande nicht mehr so etwas nebelhaft Waberndes wie eine kulturelle Statik. Das Gegenteil von Statik prägt unsere Gesellschaft. Das Nachkriegsdeutschland steht für Aufgeschlossenheit, Lernfähigkeit, Veränderungswillen und es lebt von seiner beachtlichen Dynamik.

Die europäische Ampel steht auf gelbrot

Natürlich wird Deutschland den gegenwärtigen Kraftakt bei der Aufnahme von Flüchtlingen auf Dauer nicht im Alleingang durchhalten. Vonnöten ist internationale Solidarität und zwar sowohl innerhalb der Europäischen Union von 28 Mitgliedsstaaten als auch - was zumeist unerwähnt bleibt - über den Atlantik hinweg. Es geht nicht, dass sich Länder wie Polen, Ungarn, Tschechien, die Slowakei und einige andere einen schlanken Fuß machen.

Wer seit Jahren europäische Solidarität in Anspruch nimmt, muss auch seinerseits zu Solidarleistungen bereit sein, wenn andere Länder ihrer bedürfen. Wenn das nicht mehr möglich ist, dann steht die EU endgültig am Scheideweg. Die europäische Ampel steht auf gelbrot.

Die vom ungarischen Regierungschef Orbán geäußerte Sorge, dass sich Muslime unter die Bevölkerung mischen und die "christliche Kultur Ungarns" gefährden würden, ist kein tragfähiger Grund, nationale Grenzen geschlossen zu halten und Flüchtlinge ihrem Schicksal zu überlassen. Wäre Orbáns Gedanke richtig, erwiese sich das von ihm reklamierte Schutzgut Christentum als hohle Phrase.

Es ist beschämend, dass man christlichen Staatslenkern in Erinnerung rufen muss, dass Nächstenliebe das oberste Gebot ihres vorgeschobenen Glaubens ist. Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn sagte zutreffend: "Wenn Orbán ein Christ ist, dann ist Kim Il Sung auch ein Christ."

Nebenbei bemerkt: Die muslimischen Nachbarstaaten Syriens haben eindrucksvoll bewiesen, was Solidarität bedeutet. Sie haben viele Millionen Flüchtlinge aufgenommen und zwar unter schwierigsten Bedingungen. Ähnliches gilt für die Nachbarstaaten Afghanistans und des Iraks. Im Libanon vegetieren heute bei einer Einwohnerzahl von etwa vier Millionen gut eine Million Syrienflüchtlinge in endlosen Lagern. In Relation dazu müsste Deutschland nicht 800.000, sondern 20 Millionen aufnehmen. Nur so viel zum Thema: Das Boot ist voll.