Flüchtiges Spätsommermärchen

Deutschland feierte "Refugees Welcome" - gleichzeitig werden Flüchtlingsunterkünfte angegriffen und der Mob tobt sich mit verbaler Gewalt im Netz aus. Wo soll es hingehen in diesem Land?

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Refugees Welcome, München 2015, Foto: A. Naica-Loebell

Die Flüchtlinge beherrschen die Schlagzeilen. Am letzten Wochenende waren es noch einmal zehntausende, die in Deutschland ankamen - vor allem Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien. Zum großen Erstaunen der breiten Öffentlichkeit, der Politik und der Medien, die sich in der jüngsten Vergangenheit weit intensiver mit Pegida und den Rassisten verschiedener Formate auseinander gesetzt hatten, wurden die Flüchtenden von sehr vielen Menschen mit lautem Applaus und überwältigender Hilfsbereitschaft willkommen geheißen: Refugees Welcome! Um Flüchtlinge besorgte Bürger!

Eine engagierte Zivilgesellschaft hat die zaudernden Politiker hinter sich gelassen und artikuliert laut und deutlich eine Willkommenskultur, die in den letzten Jahrzehnten für Asylsuchende in Deutschland nicht existierte.

Der lange Weg nach Deutschland

Nichts an der aktuellen "Füchtlingskrise" ist wirklich überraschend. Die Flüchtenden sind bereits seit vielen Monaten oder sogar Jahren auf der Flucht. Allerdings war es für sie bisher extrem schwierig, deutschen Boden zu erreichen. Das liegt zum einen an den in den letzten Jahren zunehmend mit Mauern und Zäunen und immer mehr Überwachung aufgerüsteten Außengrenzen der Europäischen Union (Virtuelle Grenze: EU setzt "Copernicus" gegen Flüchtlinge ein), zum anderen an den Dublin-Abkommen, die innerhalb Europas vorschreiben, dass Asylverfahren im Ankunfts-Land durchzuführen seien.

Da die Bundesrepublik von EU-Staaten umgeben ist, gab es für Flüchtlinge nur die Möglichkeit an den Gestaden der Nord- und Ostseee zu landen, um hier erstmalig europäischen Boden zu betreten und sofort einen Asylantrag zu stellen. Bei Anreise durch ein anderes Land sieht das Dublin-Abkommen die Abschiebung in das Ankunftsland vor.

Die Anreise per Flugzeug ist praktisch so gut wie ausgeschlossen, da die EU-Richtlinie 2001/51/EG festgeschrieben hat, dass Fluggesellschaften haften, falls sie Personen ohne Visum in den Schengen-Raum transportieren. An den Flughäfen gibt es eigene Räume im Transit-Bereich, um visafreie Reisende nach einer kurzen Anhörung gleich wieder ins nächste Flugzeug zu setzen, sie werden aber dank der gut funktionierenden Richtlinie kaum gebraucht.

In direkter Folge dieses ausgeklügelten Abschottungssystems sind Flüchtlinge, die nach Europa wollen, faktisch auf Schleuser angewiesen. Und auf den lebensgefährlichen Weg über das Mittelmeer, in mehr oder weniger hochseetauglichen und meist überfüllten Booten. Für ihre Reise innerhalb Europas brauchen sie dann weitere Schlepper und sie müssen verschleiern, auf welchem Weg sie gekommen sind. Sonst droht ihnen die Abschiebung. Pro Asyl erklärt dazu:

Flüchtlinge, denen es gelingt, die streng abgeriegelten EU -Außengrenzen zu überwinden, landen vielfach in katastrophalen Situationen. In Bulgarien, Malta oder Griechenland werden Schutzsuchende nach der Einreise systematisch inhaftiert, auch in Ungarn gehört ihre Inhaftierung mehr und mehr zum Plan. In Italien leben Flüchtlinge vielfach als Obdachlose auf der Straße, in Parks oder Abbruchhäusern. Viele Flüchtlinge erfahren erst in Europa, was es heißt, zu hungern. Sie müssen betteln, um zu überleben. Unzählige werden darüber hinaus Opfer von rassistischer Gewalt. Die erneute Schutzsuche, die Weiterflucht in andere EU-Staaten wie Deutschland oder Schweden, ist oft der einzige Ausweg. Doch dort droht ihnen umgehend die Abschiebung zurück ins Elend. So durchqueren die Betroffenen auf der Suche nach Schutz mehrere EU-Staaten, werden immer wieder obdachlos, inhaftiert, bedroht, abgeschoben.

Der Hauptteil der Flüchtenden kommt in den südeuropäischen Staaten über das Meer an. Italien, Malta. Griechenland und Spanien sind überwiegend die Portale nach Europa. Länder, die seit Jahren selbst in tiefen Krisen stecken und in denen die Asylsysteme kaum oder gar nicht funktionieren.

Da deutsche Gerichte sowie der europäische Gerichtshof in den letzten Jahren die Mängel der Asylverfahren und der Aufnahmebedingungen für Flüchtlinge anerkannten und entsprechend Abschiebungen aussetzten, ist das Dublin-Abkommen faktisch längst ein Löcherwerk - höchste Zeit sich endgültig davon zu verabschieden (vgl. auch Gehversuche eines Untoten: Hintergründe zur Krise des Dublin-Systems).

Es war die Nachricht, Deutschland setze das Dublin-Verfahren für Syrien-Flüchtlinge aus, die sich in Windeseile verbreitete, und als Initialzündung des Zustroms der Flüchtlinge wirkte. Dabei handelt es sich allerdings in Wahrheit nur um eine interne Richtlinie - es bleibt zu hoffen, dass die Realität der neuen Willkommenskultur sie in eine "formal bindende Vorgabe" verwandelt. Nach dem Beschluss am Sonntagabend (Die Bundesregierung führt an bayerischen Binnengrenzen wieder Kontrollen ein) sieht es allerdings nicht mehr danach aus.