Journalismuskritik: Schaut ihn euch an, den Kollabierenden

Zusammenbruch des BMW-Chefs bedient primitiven Voyeurismus

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Die Bilder sind eine "Sensation." Medien "müssen" sie der Öffentlichkeit zugänglich machen. Das, was sie zeigen, "muss" man gesehen haben.

BMW-Manager Harald Krüger ist bei einem Auftritt auf der Internationalen Automobil-Ausstellung (IAA) in Frankfurt kollabiert. Ein gesundheitliches Problem. Fotografen waren zur Stelle. Ihre Reflexe greifen. Sie tun das, was Fotografen eben tun: Sie fotografieren, sie halten drauf. Die Bilder sind gemacht. Da liegt er nun. Der Chef eines großen Automobilkonzerns. Am Boden. Welch eine Symbolik.

Die Nachrichtenportale und Internetseiten der großen Medien erkennen den Wert der Bilder. Rasch "informieren" sie den Mediennutzer darüber, was Krüger passiert ist. Dank der gestochen scharfen Aufnahmen dürfen sich die Rezipienten den Kollaps des Spitzenmannes aus der Wirtschaft im Detail anschauen. Den Fall, die Körperhaltung, die Gestik, die Gesichtszüge. So sieht es also aus, wenn der "große BMW-Chef" aufgrund eines gesundheitlichen Problems zusammenbricht.

Stern.de, Spiegel Online, Süddeutsche.de, Focus-Online, Bild.de, Welt.de bis hin zu lokalen Medien wie die Osnabrücker Zeitung, Der Westen oder RP Online sind am Geschehen dran - für ihre Leser, versteht sich. Unter Google News finden sich derzeit 374 Artikel zu dem Vorfall, viele davon mit Bildern, die Krüger beim Kollabieren zeigen.

Das ist es, was eine Medienberichterstattung leisten kann, deren überragende Qualität allenfalls von einigen notorischen Medienkritikern in Frage gestellt wird. Klingt in diesen Zeilen Sarkasmus an? Nein, um Himmelswillen. Das ist alles ernst gemeint.

Die Bilder sind schließlich von großer gesellschaftlicher Bedeutung. Sie müssen der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden. Sie "dokumentieren", mindestens, auf beispiellose Weise "den Untergang" der BMW Group, eines der größten Wirtschaftsunternehmen in Deutschland. Aber nicht nur das, sie "dokumentieren" den "bevorstehenden Untergang" der deutschen Wirtschaft, ja, sogar des kapitalistischen Systems. In den Bildern "verdichtet sich" geradezu auf ikonographische Weise... Ja, was eigentlich? Was verdichtet sich in ihnen? Dokumentieren sie wirklich den Zusammenbruch eines großen deutschen Unternehmens, den Untergang der deutschen Wirtschaft oder gleich des kapitalistischen Systems?

Wäre dem so, dann könnte man es einigermaßen nachvollziehen, dass nahezu eine gesamte Medienlandschaft sich dafür entscheidet, diese Bilder der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Doch dem ist mitnichten so. Und die Medien behaupten das natürlich auch nicht.

Die Bilder zeigen nichts weiter, als einen Menschen, dem seine Gesundheit zu schaffen macht und der bei einem öffentlichen Auftritt zusammenbricht. Sollten Medien, die sich selbst einen verantwortungsvollen Umgang in ihrer Berichterstattung auf die Fahnen geschrieben haben, diese Bilder veröffentlichen?

Welchen Informationsgehalt transportieren die Bilder? Respektieren die Bilder die Würde, die jeder Mensch hat - und sei es auch die Würde der oft verhassten Chefs großer Unternehmen? Nein, sie treten, so darf man es durchaus sehen, die Würde mit Füßen.

Der Informationsgehalt der Bilder geht geradezu gegen null. Sie bedienen einen primitiven Voyeurismus. Auch wenn Krüger durch seine exponierte Stellung in einem großen Unternehmen und seinen diversen öffentlichen Auftritten ein Medieninteresse auf sich zieht, auch wenn der Zusammenbruch bei einem öffentlichen Auftritt geschieht: Müssen Medien wirklich der Öffentlichkeit aufzeigen, wie ein mehr oder weniger prominenter Menschen aussieht, wenn er aufgrund eines gesundheitlichen Problems die Kontrolle über seinen Körper verliert und seine Gesichtszüge entgleisen?

Nein, das müssen sie nicht. Die reine Nachricht, ohne die Bilder, die den Zusammenbruch zeigen, wäre die medienethisch saubere Entscheidung gewesen.

Doch man macht es sich zu leicht, wenn man nur die Medienseite in den Blick nimmt. Auf Bild.de, beispielsweise, war der Artikel mit den Bildern, die den Kollaps von Krüger zeigen, unter den Artikeln, die am meisten angeklickt wurden. Die Lust an einem primitiven Voyeurismus unter Teilen der Rezipienten und der wenig sensible Umgang mit der Würde eines Menschen durch die Medien scheinen sich gegenseitig sehr gut zu befruchten.