Alles so schön bunt hier

Schöne Märchen haben oft ein böses Ende. Ein solches droht auch dem zweiten deutschen Sommermärchen, denn die wirklich gefährlichen Bösewichte tarnen sich als Helldeutsche

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Ach, war es nicht schön, das "neue deutsche Sommermärchen?" Frenetisch klatschende Empfangskomitees an den Bahnhöfen, die Bundeskanzlerin endlich einmal total empathisch und mit ihr Deutschlands Wirtschaftsbosse und Verbandsvertreter. Alle sind sie auf der Woge der "Willkommenskultur" mitgesurft und haben ihr Herz für Flüchtlinge ganz weit geöffnet.

Auch die Medien schwammen routiniert im Mainstream mit, vorneweg die "Bild", die bei der Gelegenheit den alten Antifa-Slogan "Refugees welcome" für sich kaperte. Viel ist seitdem die Rede von dem "reichen Deutschland", das so viele Flüchtlinge anzieht und mit dem schon deshalb alles in Ordnung sein muss. Endlich könne man wieder stolz sein auf unser Land, heißt es. Und wenn Angela Merkel sagt: "Wir schaffen das", dann wird das schon stimmen. Der Legende nach ist es ja auch die schiere Willensanstrengung, die Deutschland stets beim Fußball siegen lässt. Oder sollte das etwa alles nur ein Märchen gewesen sein?

Wer Fragen stellt, gilt schnell als Spaßverderber und Schwarzseher

Die Erfahrung spricht dafür, denn von Empathie, Altruismus und Solidarität war in der Vergangenheit weder bei Angela Merkel noch bei Deutschlands Wirtschaftsbossen viel zu spüren. Daher könnte man fragen, ob es wirklich um die Flüchtlinge geht oder um Deutschland, wenn allenthalben von der Nützlichkeit jener Flüchtlinge fabuliert wird, die unser Rentensystem retten und den angeblich "drohenden Fachkräftemangel" aufhalten sollen.

Man könnte weiter fragen, wer dieses "Deutschland" eigentlich ist, das angeblich - zumindest langfristig - nur Vorteile aus der Zuwanderung zieht. Antworten auf diese Fragen sind gar nicht so schwer zu finden. Doch wer dies versucht, setzt sich leicht dem Verdacht aus, ein Spaßverderber oder gar ein "besorgter Bürger" zu sein.

Wer nicht einfach daran glaubt, dass Merkel aus reinster Nächstenliebe die Tore für Flüchtlinge weit geöffnet hat, leide unter "Miserabilismus", belehrte Isolde Charim jüngst die Leser der Taz. Linke seien dafür besonders anfällig, stets fahndeten sie nach bösen Hintergedanken und erwarteten immer nur das Schlechteste. Wo sich doch - was Charim allerdings nicht weiter ausführt - nun alles zum Guten wendet.

Die infolge der Hartz-Gesetze entzweite Gesellschaft wird endlich wieder solidarisch und kann die Neubürger daher problemlos integrieren. Jährlich werden hunderttausende Sozialwohnungen gebaut, so viele, dass sich auch die einheimischen Geringverdiener ein schönes Plätzchen aussuchen können. Und die Wirtschaft sorgt dafür, dass jeder einen Arbeitsplatz bekommt, von dem er leben kann.

Kurz gesagt, die Kanzlerin beerdigt den Neoliberalismus, Arbeitgeber verzichten auf mögliche Gewinne und die Immobilienbranche ebenso. Wer das nicht wahrhaben will, hat die alternative Taz-Logik nicht begriffen, die Anja Maier kürzlich in einem Kommentar unfreiwillig enthüllte: "Dabei zeigen die Missstände bei der Unterbringung der Flüchtlinge wieder einmal deutlich, was Fremdenfeinde so gern anzweifeln: Deutschland hat ein Fachkräfteproblem. Dieses wirtschaftlich starke Land fährt seine Verwaltungen seit Langem auf Verschleiß, das wird dieser Tage offenbar."

Privatisierung der Gewinne - Sozialisierung der Verluste

Auch auf die Gefahr hin, als Fremdenfeind zu gelten, oute ich mich: Ich glaube nicht an den Fachkräftemangel (Unseren täglichen Fachkräftemangel gib uns heute!). Mehr noch - ich habe sogar das Gefühl, dass irgendetwas faul sein muss an dieser "Willkommenskultur". Das ist allerdings nicht nur so ein Gefühl.

Schon seit vielen Jahren trommeln die Bertelsmann Stiftung, die "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" (INSM) und wirtschaftsnahe Forschungsinstitute für Sozialstaatsabbau und mehr Zuwanderung. Im Zusammenhang mit der Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien hat Hartmut Krauss ihre typische Rhetorik in einem Telepolis-Interview (Vereinfachungen und Vereinseitigungen) wie folgt beschrieben: "Konstruiert wird hier in reklametechnischer Manier der realitätsabstrakte Typus einer homogen positiven Zuwanderung, der nur hochqualifizierte und unmittelbar integrationsfähige Migranten mit guten Deutschkenntnissen kennt, beziehungsweise vorkommen lässt, die sich kulturell-normativ sofort reibungslos einfügen und Deutschland vor dem demographischen Untergang retten." Was am Ende dabei herauskomme, sei erfahrungsgemäß "privatkapitalistische Nutzung von Vorteilen - Sozialisierung von Nachteilen in Form der Abwälzung auf die Gesamtbevölkerung."

Wenige Tage vor dem Inkrafttreten der vollen Arbeitnehmerfreizügigkeit für Bulgaren und Rumänen zum 1. Januar 2014 verkündete Klaus F. Zimmermann, Direktor des von der Deutsche Post-Stiftung geförderten Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit (IZA), die meisten Zuwanderer aus diesen Ländern seien "gut qualifizierte Fachkräfte wie Ärzte, Ingenieure, Spezialisten, die bei uns dringend gebraucht werden". Zimmermann sprach von den Zuwanderern in der Vergangenheit und überließ es den Medien, daraus Prognosen für die Zukunft abzuleiten.

Natürlich führte die Arbeitnehmerfreizügigkeit dazu, dass nun verstärkt Geringqualifizierte aus diesen Ländern nach Deutschland kommen (Erhebliche Unterschiede zwischen Rumänen und Bulgaren). Wahrscheinlich hätte der eine oder andere Journalisten auch gleich damit gerechnet, wenn Zimmermann seine Kaffeesatzleserei nicht geschickt in einen Zusammenhang mit der damaligen CSU-Kampagne gegen die "Zuwanderung ins Sozialsystem" gestellt und diese als "soziale Brandstiftung" bezeichnete hätte.

Es ist derselbe Zimmermann, dem bei den ALG-II-Empfängern das Fordern noch zu kurz kommt und der den Mindestlohn als "Axt am Reformmodell Deutschland" bezeichnet. Derselbe Zimmermann, der 2010, als er noch zugleich Direktor des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) war, eine Studie seines Mitarbeiters Karl Brenke "überarbeiten" ließ, wobei die ursprüngliche Überschrift "Fachkräftemangel in Deutschland: eine Fata Morgana" durch "Fachkräftemangel kurzfristig noch nicht in Sicht" ersetzt wurde. Zimmermann forderte übrigens damals schon 500.000 Zuwanderer pro Jahr, ebenso wie im März dieses Jahres die Bertelsmann Stiftung und Vizekanzler Sigmar Gabriel Anfang September.