Einsteins verlorener Schlüssel

Brechungsgesetz: Licht wird in ein Medium mit größerer Brechungszahl hinein abgelenkt. Grund ist die dort verminderte Lichtgeschwindigkeit. Siehe auch eine schöne Animation. Bild: Cepheiden/CC-BY-SA-3.0

Praktisch unbekannt geblieben ist eine Formulierung mit variabler Lichtgeschwindigkeit, die Einstein bereits 1911 ausarbeitete. Sie hätte revolutionäre Konsequenzen haben können

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Angesichts der Bedeutung Einsteins für die theoretische Physik möchte man meinen, dass sein Lebenswerk genauestens untersucht ist und seine Ideen von Forschern in aller Welt weiterverfolgt werden. Leider ist das nur bedingt so. Die Würdigung seines wissenschaftlichen Erbes konzentriert sich auf ganz wenige Arbeiten, die seinen bekannten Theorien zugrunde liegen.

Besonders prominent sind die Spezielle und die Allgemeine Relativitätstheorie, die er 1905 bzw. 1915 endgültig formulierte. Aber auch die Zwischenzeit ist hochinteressant, in der Einstein mehr oder weniger ununterbrochen mit der Theorie gerungen hat. Die Geschichte reduziert oft auf das, was sich später durchsetzte. Manchmal bleibt dabei aber ein wichtiger Aspekt auf der Strecke - so scheint es auch bei der Entstehung der Relativitätstheorie zu sein, bei der ein grundlegender Gedanke Einsteins völlig in Vergessenheit geraten ist.

Jene Version, die sich im November 1915 etablierte, als singuläre Erkenntnis zu betrachten, ist zumindest historisch nicht ganz gerechtfertigt. Einstein hatte sich 1911 an etwas noch Größerem versucht, eine Idee, die die Gravitation direkt aus den Eigenschaften des Universums zu erklären versuchte - eine Theorie mit variabler Lichtgeschwindigkeit.

Albert Einstein 1925 in Wien. Bild: Ferdinand Schmutzer/gemeinfrei

Einstein, der 1905 auf der Grundlage einer konstanten Lichtgeschwindigkeit seine spezielle Relativitätstheorie hergeleitet hatte, grübelte bald danach über einer Verallgemeinerung. Was für schnelle Bewegungen richtig war, konnte auch für Gravitationsfelder gelten:

Nichts zwingt uns zu der Annahme, dass … Uhren als gleich rasch gehend aufgefasst werden müssen.

Albert Einstein

Es ist erstaunlich, wie unbekannt dieser Artikel, der immerhin in den Annalen der Physik publiziert wurde, über die Zeit hinweg geblieben ist. Der Ansatz blieb nicht nur Stiefkind der Forschung, ja es wurde sogar über die variable Lichtgeschwindigkeit geschrieben, ohne dass Einstein als Urvater der Idee Erwähnung fand. Freilich hatte Einsteins Ansatz noch mehr Potenzial: Er hätte es prinzipiell ermöglicht, eine fundamentale Naturkonstante - Newtons Gravitationskonstante - zu berechnen und damit überflüssig zu machen.

Eine schlichte Überlegung

Tatsächlich war eine variable Lichtgeschwindigkeit Einsteins erster Impuls auf der Suche nach der Allgemeinen Relativitätstheorie, den er schon 1907 erwähnte.1 Im gleichen Jahr hatte er das sogenannte Äquivalenzprinzip formuliert, ein geniales Gedankenexperiment, das als Grundlage der Theorie gilt.

Einstein erkannte, dass es unmöglich war zu unterscheiden, ob man im schwerelosen Weltraum von einer beschleunigenden Kraft angetrieben wird oder ob diese Kraft von einem gewöhnlichen Gravitationsfeld herrührte, wie wir es auf der Erde spüren. Einstein folgerte, dass Lichtstrahlen in einem Gravitationsfeld eine Krümmung erfahren mussten, und bis heute ist dies eine hervorragend getestete Vorhersage der Allgemeinen Relativitätstheorie. Ob man aber von gekrümmtem Lichtstrahlen spricht oder, wie heute bevorzugt, von gerader Lichtausbreitung in einem gekrümmten Raum, ist mathematisch äquivalent.

Gekrümmte Lichtstrahlen erinnerten Einstein an das nach dem holländischen Physiker Huygens benannte Prinzip, dass Licht sich stets den schnellsten Weg sucht - nicht etwa den kürzesten. Damit erklärt sich zum Beispiel die Fähigkeit von Linsen, Lichtstrahlen abzulenken und zu bündeln. Daran dachte Einstein 1911 und vermutete, dass in der Nähe von Himmelskörpern, also in Gravitationsfeldern, die Lichtgeschwindigkeit ebenfalls geringer sei. Schon darin ist die zentrale Idee der Allgemeinen Relativitätstheorie enthalten.

Galaxienhaufen (die erst Jahrzehnte später entdeckt wurden) bündeln zum Beispiel auf diese Weise Licht ähnlich wie Sammellinsen. Die Astronomen nennen sie heute Gravitationslinsen, ohne dass ihnen der unmittelbare Zusammenhang zu Einsteins Idee der variablen Lichtgeschwindigkeit bewusst ist.

Wiederentdeckte Optik

Wie schafft es aber ein "ruhender" Himmelskörper, vorbeifliegende Lichtstrahlen plötzlich zur Krümmung zu bewegen? Einsteins erste Idee dazu war einfach und intuitiv. Gekrümmte Lichtstrahlen waren ein wohlbekanntes Phänomen der Optik - beschrieben wird es mit dem sogenannten Brechungsgesetz. Dessen Ursache wurde aber erst von den Mathematikern Huygens und Fermat mit der Wellennatur des Lichts beschrieben. Letzterer leitete 1660 das Brechungsgesetz mit einem frappierend einfachen Prinzip her: Licht suchte sich den schnellsten Weg!

Offensichtlich ist (wie im Beispiel der Abbildung) der geometrisch kürzeste Weg nicht immer der schnellste, weil hier ein erheblicher Teil durch ein Medium mit langsamerer Geschwindigkeit (z.B. Wasser) führen würde. Der "gebrochene" Lichtstrahl findet insofern einen klugen Kompromiss in einem geometrisch etwas längeren Weg, der jedoch einem Zeitgewinn resultiert, weil die Fortbewegung länger mit der schnelleren Geschwindigkeit erfolgt. Einstein kannte das Fermat-Huygens'schen Prinzip und wandte es in der Gravitationsphysik an. Die Lichtgeschwindigkeit im Gravitationsfeld musste geringer sein:

Aus dem soeben bewiesenen Satze, daß die Lichtgeschwindigkeit im Schwerefelde eine Funktion des Ortes ist, läßt sich leicht mittels des Huygensschen Prinzipes schließen, daß quer zum Schwerefeld sich fortpflanzende Lichtstrahlen eine Krümmung erfahren müssen.

Albert Einstein