110-jähriger Afghane soll Flucht nach Deutschland überstanden haben

Medien berichten von der erstaunlichen Geschichte, die aber auf sehr dünnem Boden steht

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Wenn Medien Wirklichkeiten konstruieren, dann ist alles möglich. Ein 110-jähriger Mann aus Afghanistan hat gleich zwei Dinge vollbracht, die, bei Lichte betrachtet, erstaunlich sind:

Er hat es geschafft in Afghanistan 110 Jahre alt zu werden. Und: Trotz seines betagten Alters hat er - blind, taub und lahm - eine Strecke von 5.500 Kilometer bis nach Deutschland zurückgelegt. Immerhin musste er die Strecke nicht zu Fuß laufen. Er wurde über weite Teile der Strecke getragen - von seinen männlichen Familienmitliedern.

Das "berichten" derzeit diverse Online-Portale regionaler und überregionaler Medien. Der Afghane, der aus einem Land stammt, in dem die durchschnittliche Lebenserwartung eines Mannes im Jahr 2005 bei 42,71 Jahren lag, im Jahr 2013 bei 48,81 Jahren, habe den langen Weg aus seiner Heimatstadt Baglan in Kauf genommen, da das Leben dort lebensgefährlich sei, heißt es etwa auf welt.de.

Eine Nachricht, aus der sich Schlagzeilen machen lassen:

Um es kurz machen: Die Schlagzeilen sind eindeutig. Ein 110 Jahre alter Flüchtling aus Afghanistan hat, blind, taub und lahm Deutschland erreicht. Das ist die Information, die die Überschriften dem Rezipienten vermittelt. Nur: stimmt sie?

Die Zeilen, die den Schlagzeilen folgen, sind bemerkenswert. Sie zeigen, wie Medien auf Basis einer fragwürdigen Information rasch eine eigene Wirklichkeit erschaffen:

  • Wie groß die Verzweiflung ist, sich auch als hoch betagter Flüchtling tausende Kilometer weit nach Deutschland durchzuschlagen, zeigt jetzt eine Meldung aus Passau. Ein 110 Jahre alter Flüchtling aus Afghanistan ist mit seiner Familie in Passau angekommen. (faz.net)
  • Dass Flüchtlinge viele Anstrengungen auf sich nehmen, um bis nach Deutschland zu kommen, ist bekannt. Doch eine Geschichte aus Passau erstaunt selbst vor diesem Hintergrund. Am Dienstag ist dort ein 110-jähriger Flüchtling angekommen. Er kommt aus Afghanistan. (focus.de)
  • Samt 110-jährigem Urgoßvater ist eine afghanische Familie nach Bayern geflüchtet. Der blinde und taube Greis wurde die 5500 Kilometer lange Strecke meist getragen - und kam recht munter in Deggendorf an. (welt.de)
  • Nach wochenlanger Flucht hat ein 110-jähriger Mann aus Afghanistan mit seiner Familie Deutschland erreicht. Der blinde und taube Greis sei am Montag mit acht weiteren Angehörigen in Passau eingetroffen, wie die Bundespolizei in Deggendorf mitteilte. (stern.de)

Die Beispiele genügen, um zu verdeutlichen: Medien kleiden die Geschichte des angeblich uralten Flüchtlings in eine Sprache, die sich zwischen einem nachrichtlichen und "featurhaften" Stil bewegt und dem Leser den Eindruck vermittelt, dass die Story der Wirklichkeit entspricht.

Das ist umso erstaunlicher, weil in den diversen Artikel durchaus durch entsprechende sprachliche Einschübe Distanzierungen zur vermeintlichen sensationellen Nachricht geschaffen werden.

Bild.de führt immerhin gleich zu Beginn des Artikels ein "angeblich" in Klammern ein, auch focus.de bedient sich zu Beginn des Haupttextes dem Wort "angeblich", welt.de schränkt im zweiten Abschnitt mit den Worten ein: "So zumindest hat seine Tochter...der Bundespolizei in Deggendorf die Fluchtgeschichte erzählt", und im Vorspann auf augsburger-allgemeine.de. ist zu lesen, dass "wohl ein 110-jähriger Flüchtling aus Afghanistan angekommen" ist.

Doch worauf beruht die Geschichte nun? Wie ist die Faktenbasis? Gibt es vielleicht gute Gründe, die es aus journalistischer Sicht vertretbar machen, dass man die Nachricht an die Mediennutzer, versehen mit den entsprechenden Einschränkungen und Distanzierungen, zugänglich macht?

Die Informationen, die die Grundlage für die Nachricht bilden, stammen, so wird es aus der Berichterstattung deutlich, von der Bundespolizei. Die angebliche Tochter des Mannes hat bei ihrer Ankunft mit ihrem Vater bei der Behörde dessen Geburtsdatum angegeben. Am 1.1. 1905 sei ihr Vater demnach geboren.

Auf welt.de ist Folgendes zu lesen:

All dies, die Umstände, die Flucht, und das hohe Alter des Mannes können die deutschen Polizisten natürlich nicht überprüfen. Wie die meisten Flüchtlinge hatten auch die Azizis keine Papiere dabei, als sie in der so genannten Bearbeitungsstraße in Deggendorf registriert wurden. Allerdings: "Der Dolmetscher erachtet die Angaben als glaubhaft", heißt es von Seiten der Bundespolizei. Und es macht ja auch keinen Unterschied, selbst wenn Abdul Quader Azizi "nur" 90 wäre - und dafür, sagt Rudolf Kröll von der Pressestelle der Bundespolizei in Deggendorf, würde der Greis augenscheinlich "jederzeit durchgehen." Es ist auf jeden Fall ein zwar rüstiger, aber sehr alter Mann, der sich auf den Weg gemacht hat.

welt.de

Einzig auf der Basis eines Dolmetschers (wer ist der Dolmetscher? Verfügt er über fachliche Qualifikationen?) und der Aussage der Bundespolizei, wonach der Mann aus Afghanistan als 90-Jähriger augenscheinlich "jederzeit durchgehen" würde und er "auf jeden Fall" ein "sehr alter Mann" sei, berichten selbst die großen und renomierten Medien über einen "Sachverhalt", der, selbst wenn er stimmen würde, aufgrund einer Faktenbasis, die mit dünn sehr zurückhaltend umschrieben ist, qualitativ betrachtet, nicht ausreicht, um eine Nachricht daraus zu machen.

Hinzu kommt: Alleine schon die Betrachtung der durchschnittlichen Lebenserwartung eines Mannes in Afghanistan müsste zu einem starken Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Geschichte führen. Außerdem: Wer sich etwas mit dem Land Afghanistan und seinen Menschen auseinandersetzt wird schnell darauf stoßen, dass Menschen aufgrund der extremen Bedingungen sehr früh altern. Anders gesagt: Krieg und Armut machen alt. Menschen, die 30 Jahre alt sind, können aussehen wie 50.

Doch ungeachtet dessen, dass selbst die Bundespolizei das Alter des Mannes nicht verifizieren kann und es auch für möglich hält, dass er augenscheinlich auch "nur" 90 sein könnte, endet der Artikel auf welt.de mit den Worten: "Für den 110-Jährigen vermutlich eine vergleichsweise bequeme Reise: Die Familie fährt mit dem ICE nach Hessen." Wenn Medien erstmal eine Wirklichkeit geschaffen haben, dann kann sie so leicht nichts erschüttern, möchte man anmerken.

Deutlich wird: Auch an dieser kleinen, an und für sich harmlosen Geschichte kommt zum Vorschein, wie dünn die Faktenbasis im Journalismus nur noch sein muss, um aus einer "Information" eine Nachricht werden zu lassen, die durch alle Medien geht. Immer wieder ist zu erkennen, dass eine kritische Hinterfragung von möglichen Nachrichteninhalten nicht ausreichend genug stattfindet oder aber Nachrichten einfach gebracht werden (17-Jähriger macht 72 Millionen Dollar an der Börse), unabhängig von ihrem Realitätsgehalt, sofern nur hohe Klickzahlen zu erwarten sind.