Mit neuen Krankheiten wird ein neuer Markt geschaffen

Astrid Randerath über Ursachen und Folgen der "Kinderkrankmacher"

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Wir kennen sie aus unserer eigenen Schulzeit - den ewig Lauten, den Zappelphilipp, den Träumer - Kinder, die in irgendeiner Form auffallen. Die meisten kommen im Leben gut klar - ganz ohne spezielle Therapie. Doch wer heutzutage nicht funktioniert, bekommt schnell eine Diagnose und viel zu oft auch Medikamente. Tendenz steigend. Zur Frage, was hier eigentlich geschieht und warum mehr und mehr Kinder angeblich erkranken, sprach Jens Wernicke mit der ZDF-Journalistin Astrid Randerath. Zusammen mit Beate Frenkel hat sie das Buch "Die Kinderkrankmacher. Zwischen Leistungsdruck und Perfektion - Das Geschäft mit unseren Kindern" geschrieben.

In deutschen Schulen geht es seit einigen Jahren ziemlich rund. Da gibt es - etwa mit G8 - zum einen immer höheren Druck. Und da gibt es, sozusagen auf der anderen Seite, auch immer mehr Kinder, die als "auffällig", "gestört" oder "behindert" klassifiziert werden. Eine regelrechte Industrie ist hier offenbar am Entstehen, die den Betroffenen und ihren Eltern umgehend Hilfe offeriert.

Mit Ihrem neuen Buch "Die Kinderkrankmacher" verlassen Sie die soeben skizzierte Analyse-Achse von "Wer bei zunehmendem Druck schwächelt, ist gestört" und fokussieren stattdessen auf das Geschäft mit unseren Kindern. Um was für ein Geschäft handelt es sich dabei? Und wer betreibt dasselbe denn?

Astrid Randerath: Vor einigen Jahren trafen wir den Manager eines großen, weltweit operierenden Pharmakonzerns. Er sagte uns: "Jetzt knöpfen wir uns die Kinder vor. Die machen wir zu Kranken." Heute sehen wir, dass das offensichtlich funktioniert hat. Es wird ein Riesengeschäft auf dem Rücken unserer Kinder gemacht.

Vor 20 Jahren gab es etwa noch 5.000 Kinder mit ADHS, jetzt sind es angeblich über 600.000. Jährlich schlucken sie 1,75 Tonnen Tabletten dagegen. Tabletten mit schwersten Nebenwirkungen, wie etwa jener, dass sie nicht so wachsen wie andere, Herzrhythmusstörungen oder Depressionen bekommen. Das fanden wir alarmierend. Was tun wir da unseren Kindern an, die das Wichtigste sind, was wir haben!

Den Manager haben wir übrigens vor kurzem wieder getroffen. Er hat selbst Kinder und ist mittlerweile aus dem Geschäft ausgestiegen, weil er nicht mehr verantworten wollte, wie unsere Kinder zu Kranken gemacht werden.

Verstehe ich das richtig: Für Sie ist zuallererst der steigende Druck auf unsere Kinder und auch andere Beteiligten im Bildungssystem das Problem. Und dieses wird dann sozusagen noch ausgebaut, indem - in Verschleierung der eigentlichen Misere, wenn man so will - die Pharmaindustrie umgehend "Medikamente" offeriert, um den vermeintlich "Kranken" zu helfen?

Astrid Randerath: Ja, denn viele Eltern fühlen sich unter Druck, weil sie Angst vor dem sozialen Abstieg ihrer Kinder haben. Sie geben im Jahr 1,5 Milliarden Euro allein für Nachhilfestunden aus - obwohl die Kinder oftmals gute Noten haben. Eltern haben die große Sorge, dass ihre Kinder in der Schule versagen, wenn sie unkonzentriert oder zappelig sind.

Auch Lehrer sind oftmals unter Druck, weil sie meist in viel zu großen Klassen unterrichten müssen. Zudem müssen sie durch G8 in immer kürzerer Zeit den vorgesehenen Lernstoff durchpauken. Einige Bundesländer lassen die Lehrer zudem beim Thema "Inklusion" allein. Es fehlt vielerorts an zusätzlichem Lehrpersonal und an den nötigen finanziellen Mitteln. Stattdessen müssen sich Lehrer an bürokratischen Hürden abkämpfen, wenn sie etwas verändern wollen. All das macht den Schulalltag äußerst schwer.

Und die Ärzte stehen häufig unter Zeitdruck. Ein Rezept, so sagte uns ein Arzt, schreibt sich dann eben viel schneller, als sich mit der Geschichte des Kindes und also den Ursachen seiner Verhaltensstörung auseinanderzusetzen.

Diesen gesellschaftlichen Notstand macht sich die Pharmaindustrie zunutze. Sie bietet die passenden Pillen an, um schwierige Kinder ruhigzustellen. Aber das ist ein fatales Signal.

Eltern und auch Schulen benötigen daher dringend mehr Unterstützung, um andere, bessere Wege als diesen zu gehen. Wir brauchen kleinere Klassen und mehr Lehrer! Hier ist die Politik gefordert, endlich zu helfen, denn unsere Kinder sind schließlich das Wichtigste, was wir haben.

Astrid Randerath. Foto: privat

Viele Kinder bekommen Tabletten, obwohl sie gar nicht krank sind

Aber helfen die Medikamente denn nicht? Sind sie nicht mehr Segen als Fluch? Die Kinder leiden doch offenkundig an der Schule und ihrer Rolle in ihr…

Astrid Randerath: Sehr aktive Kinder werden durch die Medikamente ruhiggestellt. Wir haben unter anderem einen jungen Mann getroffen, der uns sehr beeindruckt hat: Er studiert Naturwissenschaften, ist ein brillanter Pianist und außerdem sehr sportlich. Er sagte uns, er habe seine ganze Kindheit wegen der Tabletten wie in Trance erlebt. Seine Fähigkeiten konnte er während seiner Schulzeit daher auch nicht entwickeln, sondern hat das später, erst als Erwachsener getan. Da hatte er die Pillen abgesetzt.

Hinzu kommt: Viele Kinder bekommen Tabletten, obwohl sie gar nicht krank sind. Der Schweizer Kinderarzt und Verhaltensforscher Remo Largo hat uns gesagt, dass nur 1 Prozent der Diagnosen berechtigt ist. Die anderen Kinder werden mit den Tabletten einfach zugedröhnt. So lernen sie aber nicht, mit Misserfolgen umzugehen, sich besser zu konzentrieren und anderes.

Viele Kinder haben zum Beispiel den Impuls, das Spielbrett beim Mensch-Ärger-Dich-Nicht umzuhauen, wenn sie verlieren. Aber: Wenn die dann nicht lernen, diesen Impuls auch mal zu unterdrücken, dann können sie das auch als Erwachsene nicht. Das Hirn entwickelt sich ja nutzungsabhängig. Wenn diese Kinder einfach nur durch die Tabletten gefügig gemacht werden, entwickeln sie sich nicht weiter. Dann steuern wir auf eine Generation von Erwachsenen zu, die ohne Tabletten nicht mehr leben und arbeiten kann.

Haben Sie vielleicht ein Beispiel eines Kindes, das derlei Probleme hatte? Und wie dann mit diesem umgegangen wurde und was Ihrer Meinung nach wirklich hätte getan werden müssen…

Astrid Randerath: Wir berichten in unserem Buch zum Beispiel von Tim aus Berlin. Schon im Kindergarten war er aggressiv anderen Kindern gegenüber, wurde schnell impulsiv, wenn ihm mal was nicht in den Kram passte. In der Schule konnte er sich dann kaum konzentrieren. Obwohl Ärzte zu Tabletten rieten, entschieden sich seine Eltern dagegen. Sie machten viel Sport mit ihm und gemeinsam eine Therapie, bei der sich auch die Eltern selbst in ihren Erziehungsmethoden hinterfragen mussten.

Die Lehrer der Mercator-Grundschule Berlin haben sie bei all dem unterstützt und begleitet, auch wenn es ein langer, zäher Weg war. Sie haben nie Druck gemacht, sondern sich auch über kleine Fortschritte mit den Eltern gefreut. Tim hat es übrigens soeben aufs Gymnasium geschafft. Seine Mutter sagt: "Wir haben einen tollen Jungen." Und da wir ihn kennengelernt haben, können wir sagen: Da hat sie völlig recht!

Es gibt aber auch Schulen, die ganz andere Wege gehen wie etwa die Evangelische Schule Berlin Mitte und die Evangelische Schule Berlin Zentrum. Hier erarbeiten die Kinder Wissen eigenständig mit Wochenplänen. Wenn man dort ist, meint man fast, man sei an einer Kinderuni, so selbständig arbeiten sie.

Ein Junge, bei dem vom Arzt ADHS diagnostiziert wurde, sagte uns an einer dieser Schulen: "Das ist hier kein Problem. Wenn ich mal einen schlechten Tag habe, dann gehe ich raus und mache Sport. Den Stoff hole ich dann eben am nächsten Tag nach."

Die Kinder übernehmen viel Verantwortung und stellen sich Herausforderungen. In diesen Schulen heißt es eher: "Du kannst!" statt "Du musst!" Und das funktioniert mit großem Erfolg: Vor einem Jahr haben die ersten Schüler ihr Abitur bestanden. Keiner ist durchgefallen - im Gegenteil, das Ergebnis war sehr gut.

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