Syrien: Am Ursprung des islamistischen Extremismus

Seit über einem Jahr kämpft eine Koalition von 28 Staaten gegen den Islamischen Staat in Syrien. Im Ergebnis wurde der "Islamische Staat" jedoch stärker - nicht nur in Syrien

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Die unangenehmsten Augenblicke für die anderen Bundestagsparteien sehen ungefähr so aus: "Sie könne es drehen und wenden, wie sie wollen: Wir hatten Recht", erinnerte Gregor Gysi kürzlich die Abgeordneten mit Blick auf die Kriege von Afghanistan bis Syrien. Seit sich die Umstürze um Europa herum in Form von Flüchtlingen in den deutschen Kommunen bemerkbar machen, steht in vielen politischen Lagern eine Neubewertung vergangener Abenteuer in Nordafrika und dem Mittleren Osten an.

Götz Aly, jedweder Sympathien für das Assad-Regime ganz sicher unverdächtig, gesteht zu, Russland sei es zu verdanken, dass sich die Welt "nun endlich dazu bequemt", den syrischen Stellvertreterkrieg zu beenden.

Unterdessen begannen russische Militärs in Syrien, das zu tun, was eine Koalition aus 28 Staaten seit einem Jahr zu tun vorgibt: die Söldner unter islamistischer Flagge zu bekämpfen. Gegenwärtig bleibt den undurchsichtigen Strategen in Paris, London und Washington nichts übrig, als darüber zu klagen, dass russische Kampfjets nicht nur die Organisation "Islamischer Staat" angreifen, sondern auch andere Assad-Gegner - etwa die Al-Qaida-Truppe Dschabhat an-Nusra. Allzu laut werden diese Beschwerden sicher nicht ausfallen, denn sie verdeutlichen nur das fragwürdige Vorgehen der vom Westen geführten Allianz, bei der bis heute unklar ist, ob ihr Ziel darin besteht, die Organisation "Islamischer Staat" zu bekämpfen oder die Regierung in Damaskus.

Wer kurz die Ohren schließt und ohne das politische Begleitrauschen auf die Situation blickt, kann ohne jeden Zweifel erkennen, dass die merkwürdige Allianz von Washington bis Riad im vergangenen Jahr dem zweiten Ziel deutlich näher gekommen ist. Während der Flickenteppich aus unterschiedlichsten islamistischen Söldnertruppen immer größer und unübersichtlicher wurde - bis weit über Syrien hinaus -, steht das Assad-Regime mit dem Rücken zur Wand. Ein Regime, das zwar diktatorisch war, jedoch immerhin eine halbwegs säkulare Ordnung garantierte, wie Götz Aly ganz richtig festhält: "Die zuvor funktionierenden nationalen Ökonomien, Schul- und Gesundheitssysteme brachen zusammen."

Deutliche Warnungen von den Rändern der Öffentlichkeit

Wie immer, wenn die herrschende Ordnung in einem Massaker mündet, bleibt ihren Protagonisten nichts, als über das angebliche "Scheitern" und "Versagen" ihrer Pläne zu lamentieren, als ob es jemals ein anderes Ziel gegeben hätte, als genau mithilfe einer fanatisierten Soldateska diese Gesellschaften zu zerstören. Diese Entwicklung sollte niemanden überraschen.

Wer die politischen Diskussionen um den westlichen Umgang mit der aktuellen syrischen Regierung genauer verfolgte, fand in den vergangen Jahren natürlich Stimmen, die es sich leisten können, Klartext zu reden.

Im Bereich der Sicherheitspolitik handelt es sich dabei gerne um bereits aus dem Amt geschiedene Funktionsträger - Leute, die nichts mehr zu verlieren haben. Dazu gehört etwa der ehemalige Leiter des britischen Auslandsgeheimdienstes MI6, Sir Richard Dearlove. Er verantwortete die Arbeit des Dienstes während der Besetzung des Irak ab 2003 und kann insofern, was die Ursachen für die sektiererische Spaltung der Region betrifft, als außerordentlich kompetent gelten. Im Juli 2014 erklärte er vor dem Royal United Services Institute, dass er "überhaupt keine Zweifel" an der saudischen Unterstützung für den IS habe. "Solche Dinge", gemeint ist die scheinbar überraschende Offensive der Organisation Anfang des Jahres 2014, "ereignen sich nicht spontan". Die Saudis seien "zutiefst hingezogen zu jeder militanten Bewegung, die den schiitischen Bogen effektiv schwächt".

Eine ähnliche Bilanz zog der ehemalige Leiter des amerikanischen Militärgeheimdienstes DIA, Michael Flynn, mit Blick auf die Strategie der USA. Nachdem ein Bericht seines Dienstes an die Öffentlichkeit gelangte, dem zufolge "der Westen, die Golfstaaten und die Türkei" die Aktivitäten von Al-Qaida und den Salafisten in Syrien bereits 2012 unterstützten, bilanzierte Michael Flynn: "Ich denke, das war eine bewusste Entscheidung." Anders könne er sich nicht erklären, warum die US-Regierung derartig ausdauernd die Berichte aus seinem Haus ignorierte, dass die militante Opposition in Syrien mehrheitlich aus extremistischen Salafisten besteht.

Der ehemalige Generalleutnant scheint nur eine Stimme aus Washington kritischer Geheimdienst-Community zu sein. Im September 2015 meldeten sich 50 Analysten aus dem Umfeld des Zentralkommandos zu Wort. Ihre Einschätzung lautet, dass ihre Analysen über den IS und Al-Qaida in Syrien auf dem Weg nach oben systematisch verfälscht wurden (Geheimdienstberichte über Inherent Resolve verschönt?): "Das Krebsgeschwür sitzt auf der höchsten Ebene des Geheimdienst-Kommandos."

In den Unterrichtungen des Präsidenten werden die Terrororganisationen in Syrien wesentlich schwächer dargestellt, als sie es in Wirklichkeit sind, beschwerten sich zwei Analysten bereits im Juli offiziell beim Generalinspektor des Verteidigungsministeriums. Sie vergleichen die aktuelle Situation mit den gefälschten Geheimdienstberichten von 2003 über angebliche Massenvernichtungswaffen im Irak.