Kopf hoch, "Generation head-down"!

Ihr seid vielleicht die Elite der Evolution

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Wenn neue Medien zu neuen Nutzungs- und Verhaltensweisen führen, werden diese gerne als negativ und schädlich bewertet - das Neue macht Angst und stört die bestehende Ordnung. Es gibt keine belegten Quellen, aber wir können davon ausgehen, dass die ersten Primaten, die sich erhoben und aufrecht gingen, von ihren Zeitgenossen ebenfalls für "Freaks" und Außenseiter gehalten wurden - heute nennen wir das "Evolution".

Zugegeben: Der neuerliche Weitblick dank des aufrechten Ganges war sicherlich einer der vielen Marker für die positive Selektion bei der Entwicklung zum modernen Menschen. Und nun soll dem gesenkten Blick im Nahbereich auf das Smart-Device dieselbe Rolle zufallen?

Naheliegend ist das vielleicht nicht, einfach ausgeschlossen werden kann es aber auch nicht. Schließlich haben sich die Umweltbedingungen ebenfalls geändert: Das Risiko vom Säbelzahntiger angesprungen oder vom Mammut zertrampelt zu werden ist heutzutage geringer. Wir könnten auf unserem Weg gesenkten Hauptes von einem Auto angefahren werden - aber das wird ja auch zusehend "smarter", erkennt uns oder unser Nutzungsgerät und bremst künftig von alleine. Wir brauchen unser erhobenes Haupt also nicht mehr zur Gefahrenabwehr oder zur Nahrungssuche. Ganz im Gegenteil: Um die Vitrinen und Auslagen betrachten und die TK-Pizza aus der Truhe holen zu können, ist es vorteilhaft, den Blick zu senken.

"Der vitruvianische Mensch", Zeichnung von Leonardo da Vinci. Bild hochgeladen von Lviatour/gemeinfrei

Aber ganz so einfach ist Evolution auch nicht. Unbestritten ist zentraler Bestandteil der Menschwerdung dessen aufrechter Gang: Das Blickfeld veränderte sich, die Anatomie verändert sich, das Sozialverhalten veränderte sich, die Sexualität veränderte sich. Es hatte Vorteile, die Arme freizuhaben, die nun Werkzeuge benutzen und sogar bauen konnten und in der Lage waren, Nahrung zu transportieren. Wer aufrecht steht, kann auch kräftiger zuschlagen - wobei dies aber vermutlich nur Randaspekt ist.

Grundsätzlich interessanter sind eher Tiefschläge - also wenn es unter die "Gürtellinie" geht: So schreibt auch jemand in einem Kommentar zum Beitrag über die Prügel-Theorie, dass der Mann sich erhoben habe, damit er "den Weibchen besser an die Brüste fassen konnte".

Generation head-down. Bild: Michele Ursino/CC-BY-2.0

Manchmal ist es tatsächlich so einfach, wie es im Scherz kommentiert wurde. Eine Theorie sagt, dass das Männchen im aufrechten Gang seine Genitalien besser präsentieren konnte (vielleicht benutzte es auch noch die freien Arme, um darauf zu zeigen). Eine andere zielt auf den veränderten Gebrauch ab: "Durch die Lageveränderung des Beckens, bedingt durch den aufrechten Gang, verschob sich der Geburtskanal und die äußeren Geschlechtsorgane der Frau nach vorn und es bildete sich der Gesäßmuskel, der für das Aufrechthalten des Körpers verantwortlich ist, heraus. Vermutlich führten beide Veränderungen dazu, dass sich der Geschlechtsverkehr in einer Stellung vollzog, in der sich beide Partner die Gesichter zuwenden konnten, dabei konnte ein Gefühl der Zuneigung entstehen."

Aber nicht nur der Akt, sondern auch die Arterhaltung spielte eine Rolle. Owen Lovejoy - der Forscher mit dem passenden Familiennamen - postulierte, "dass für die ersten Hominiden die Zweibeinigkeit - und ein verändertes Sozialverhalten - der Ausweg aus der sexuellen Sackgasse gewesen sei". Der Urmensch emanzipierte sich von den natürlichen Paarungszyklen, konnte gemeinsam den Nachwuchs in einem "Zuhause" versorgen, weil er Nahrung herbeischaffen konnte.

Aufrecht gehend wurde der Mensch so erhobenen Hauptes zur "Krone der Schöpfung". Mit der digitalen Revolution scheint es nun jedoch mit ihm wieder bergab zugehen - zumindest in Bezug auf die Blickrichtung und seine Körperhaltung.

Dabei ist es weder neu noch verwerflich den Blick und damit den Kopf gesenkt zu halten. Es handelte sich dabei - geradezu international - um die "Bezeugung von Ehrfurcht (dem anderen gegenüber) oder als Geste von Trauer oder Andacht". Es wird sogar grundsätzlich empfohlen und in der Regula Benedicti des Benedikt von Nursia aus dem Jahre 529 im 7. Abschnitt "Die Demut" in der Nr. 63 für die Benediktiner Mönche festgelegt: "Das heißt: Beim Gottesdienst, im Oratorium, im Kloster, im Garten, unterwegs, auf dem Feld, wo er auch sitzt, geht oder steht, halte er sein Haupt immer geneigt und den Blick zu Boden gesenkt."

Wo blieb der "Benediktiner-Nacken"?

Eigentlich müsste demzufolge seit gut 1500 Jahren der "Benediktiner-Nacken" als medizinisches Phänomen bekannt sein. Ist er aber nicht. Das kann eigentlich nur bedeuten, dass sich nur wenige Mönche strikt an diese Regel des Ordensgründers halten, denn wer zwei bis vier Stunden täglich den Kopf gesenkt hält, muss mit massiven Haltungsschäden rechnen: Ihm droht der gefürchtete "Smartphone-Nacken"! Benediktiner haben allein fast zwei Stunden Gottesdienst täglich und all die anderen Orte und Zeiten, in denen die Mönche den Kopf gesenkt halten mögen, sind dabei noch nicht berücksichtigt.

Nun sind Mönche aufgrund des Zölibats vermutlich auch nicht die beste Referenz, wenn es um die evolutionär wichtige Vererbung von Mutationen geht - im Kloster wird nicht klassisch "gemendelt". Die Studie, die die Risiken des "Smartphone-Nackens" prognostiziert, basiert ebenfalls auf keinerlei empirischer Evidenz, sondern ist schlichtweg ein mathematisches Konstrukt aus Zug- und Wirkkräften, die bei graduell abgestuften Kopfhaltungen auftreten. Der kurze Bericht von Kenneth K. Hansraj war im Spätherbst 2014 recht populär und wurde in vielen Online-Portalen aufgegriffen. Dieser unterstreicht die Thesen der haltungsbezogene Lebenshilfe in Buchform, die "Dr. Ken" über seine Website vertreibt.

"Dr. Ken" berechnet den "Smartphone Nacken". Aus: Spin Study

Nun war der ständige Blick auf das Handy nicht nur unhöflich, sondern auch ungesund und die Kritik daran somit medizinisch "geadelt". Dabei hatte sich für die Unhöflichkeit erst gut ein Jahr zuvor der Begriff des "Phubbing" etabliert: Der 23-jährige Australier Alex Haigh startete die international beachtete Online-Kampagne "stopphubbing" - so machte man die Öffentlichkeit zumindest glaubend. Dahinter verbarg sich eine Werbekampagne für ein Wörterbuch, für die dies hippe Kunstwort extra erfunden wurde. Dieser Hoax hat als inszenierte Empörung so gut funktioniert, weil er auf fruchtbaren Boden fiel und Erwartungen und Hoffnungen bestimmter Zielgruppen bediente.

Ähnlich verhält es sich mit dem "Smartphone"-Nacken: Er wurde auch nicht in "freier Wildbahn" beobachtet, gezählt und vermessen, sondern unter "Laborbedingungen" konstruiert. Aber vielen dient er als Warnung, denn sie suchen Gründe, um zu warnen. Und wenn keine Haltungsschäden drohen, drohen wir unser Leben zu verpassen: So die Aussage des millionenfach abgerufenen Youtube-Videos "Look Up!" des britischen Filmemachers Gary Turk, zu dem die "Bild" anmerkt: "Turk selbst verbreitet seine Botschaft über eben jene sozialen Netzwerke, die er heftig kritisiert."

Die selbe "Bild" lässt aber Wissenschaftler zu Wort kommen, die darauf verweisen, dass neue Medien stets für ihre schädigenden Effekten kritisiert wurden - die Schrift, das Buch, das Telefon, der Fernseher. Bevor man dieses Übermaß an Ausgewogenheit zu bewundern beginnt, sei angemerkt, dass die selben Medienwissenschaftler in einer Reihe vergleichbarer Artikel mit denselben Zitaten zu Wort kommen, was vermuten lässt, dass diese bereits in der zu Grunde liegenden Agenturmeldung zu finden waren.

"Look up!" - der YouTube-Renner von Gary Turk

Die Ursprung des Begriffs der "Generation head-down" hingegen lässt sich aufspüren: Die "Welt" vermutet ihn in einem Beitrag der BBC und bezieht sich auf einen Beitrag des "Guardian". In wie weit er sich durchsetzen wird und ob er so negativ behaftet bleibt, wie er angelegt wurde, wird sich jedoch zeigen.

Das hängt sicher auch davon ab, welchen Abzweig sich die Evolution sucht: Sie verläuft alles andere als gradlinig, sodass auch ein krummer Buckel dazugehören könnte. Auch der aufrechte Gang wurde eher im "Trial and Error"-Prinzip gefunden. Es gibt "erste Beleg dafür, dass es in der menschlichen Entwicklung Phasen gab, in der verschiedene Modelle des aufrechten Gangs miteinander konkurrierten, bis die Evolution sich auf unseren heutigen Gang festlegte".

Auch wenn es sicher ironisch gemeint ist, fragt die Süddeutsche Zeitung mit Bezug auf den "Smartphone-Nacken": "Wer sagt eigentlich, dass mit dem aufrechten Gang bereits das Ende unserer evolutionären Verwandlung erreicht sein soll?" Schließlich sei "der menschliche Körper auf opportunistische Weise anpassungsfähig" [ebd.].

"Vorfahre, Vorfahre, warum hast Du so große Augen?"

Auch im Gesichtsfeld gab es unterschiedlichste Anpassungen, die uns zum modernen Menschen werden ließen. So war die Rückbildung der Nase zentral und auch die Verkleinerung der Augen mag eine wichtige Rolle gespielt haben. "Eine besondere Entwicklung dabei, war die des räumlichen Sehens. Die Augen haben sich mit der Rückbildung der Nase in das Gesichtsfeld verlagert, und sind so auf einander zu gerückt. So wurde dem Gehirn ein zweifaches Abbild der Umwelt zugeleitet, da sich die Sehfelder der Augen folglich überschnitten. Dieses doppelte Abbild ist aber auch leicht verschoben, deswegen kommt ein räumliches und dreidimensionales Bild zustande mit dem sich Entfernungen zwischen verschiedenen Dingen abschätzen lassen."

Die Augen veränderten nicht nur ihre Position, sondern verkleinerten sich vermutlich auch: "Britische Wissenschaftler vermuten, dass die Neandertaler ausgestorben sind, weil ihre Augen und Körper größer waren als die des modernen Menschen. Deshalb habe ihnen zu wenig Hirnkapazität für wichtige soziale Fähigkeiten zur Verfügung gestanden."

Zentraler als die Frage nach sichtbaren evolutionären Sprüngen durch die Nutzung von Smartphones wie zum Beispiel die Bildung eines zweiten Daumens oder deren höhere Beweglichkeit, sind die mentalen Veränderungen in einer vernetzten Welt. Was die einen als "Digitale Demenz"1 bezeichnen mögen, ist für andere die Veränderung des Denkens, in der das Gehirn in erster Linie Referenz-Speicher also eine große Linkmaschine mit eigenen Ordnungskriterien wird. Wenn man sich nicht mehr alles aus seinem Alltag merken muss, hat man vielleicht Kapazitäten, um Lösungen für andere Fragen zu finden. So wie der Adel sich im Mittelalter den schönen Künsten zuwenden konnten, weil er nicht ums tägliche Überleben von der Hand in den Mund leben musste.

Aber diese Diskussion ist ein ganz eigenes Thema. Fazit bleibt: Es gibt also keinen Grund als "Generation head-down" den Kopf hängen zu lassen - die Zeit wird zeigen, ob sie erhobenen Hauptes in die Zukunft blicken kann.