Messerattacken: Israel rüstet auf - und schottet sich ab

Bild: Government Press Office, Israel

Als Reaktion auf eine Gewaltserie plant Israels Regierung die Abriegelung arabischer Ortschaften

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Angst, Wut und Verzweiflung begegnen sich am Morgen beim Einkaufen. Aufmerksam mustert der Verkäufer des kleinen Supermarktes im Stadtzentrum von West-Jerusalem den Mann, der gerade den Laden betritt; zwei Kunden treten ein paar Schritte zurück, hinter ein Regal. Einer der beiden greift an den Hosenbund, unter dem Pullover zeichnen sich die Umrisse einer Waffe ab. "Araber? Jude?", ruft der Verkäufer auf Hebräisch, mit arabischem Akzent. "Ich will nur schnell Kaffee kaufen", antwortet der Kunde, um die 40, dunklere Haut, Schnäuzer, mit russischem Akzent. Der Mann mit der Waffe mustert die beiden misstrauisch.

Seit Wochen tobt in Israel und den Palästinensischen Gebieten ein Sturm der Gewalt: Junge Palästinenser greifen Menschen, die sie für Israelis halten, mit Messern an, bewerfen fahrenden Autos mit Steinen und Flaschen. Israels Polizei schießt indes scharf, auch auf Kinder und Jugendliche. Israelische Rechte greifen Palästinenser an, zerstören Eigentum, schießen ebenfalls scharf.

Eskalationen, wie solche Situationen in der Polit-Sprache genannt werden, hat es im Laufe der Jahrzehnte viele gegeben, und Israels Regierung wie auch das Weiße Haus in Washington hoffen darauf, dass auch diese den Weg der Vorangegangenen gehen und irgendwann wieder abflauen wird. Im Büro von Regierungschef Benjamin Netanjahu gibt man sich sogar nach außen hin überzeugt: "Ziemlich bald wird wieder Ruhe einkehren." Weil das Wetter schlechter wird und die jungen Demonstranten die Lust am Demonstrieren verlieren. Oder weil wieder mal verhandelt wird: In den kommenden Tagen will sich US-Außenminister John Kerry darum bemühen, Netanjahu und die palästinensische Regierung zu Gesprächen zu bewegen; die Annahme dahinter ist: "Wer redet, schießt nicht", so ein US-Diplomat in Tel Aviv.

Es gibt keine Organisation

Doch trotz aller nach außen kommunizierten Zuversicht darauf, dass man die Lage schon in den Griff bekommen wird: Im Privaten gestehen sowohl Amerikaner als auch Israelis ein, dass man hofft, aber das Schlimmste befürchtet. Denn diese Gewaltserie ist anders als ihre Vorgängerinnen. Es sind keine Bombenanschläge, keine Raketenangriffe mehr; es gibt keine Organisation, mit der man einen Frieden oder wenigstens einen Waffenstillstand schließen könnte.

Zwar gibt es, auf beiden Seiten, Organisation wie den Islamischen Dschihad oder die Hamas auf der palästinensischen Seite oder die ultra-nationalistische Kach-Bewegung in Israel, die zur Gewalt aufrufen. Doch die Taten werden von Einzeltätern oder kleinen Gruppen verübt, die ihre Rechtfertigungen aus dem Internet und die Waffen aus dem Küchenschrank beziehen.

Es ist ein Szenario, dass schon seit Jahren immer wieder mal auftauchte und dafür sorgte, dass israelische und palästinensische Sicherheitskräfte gleichermaßen darauf hofften, dass es ganz schnell wieder verschwindet: Immer wieder mal kam es vor, dass arabische Arbeiter Bagger oder anderes schweres Gerät in Menschenmengen steuerten, und die Strategie der Sicherheitskräfte war dann stets: Möglichst wenig dazu sagen, um keine Nachahmer zu erzeugen, und vor allem: keine Panik.

Denn trotz der Jahre des Konflikts haben sich die Alltage von Arabern und Juden, Palästinenser und Israelis im Laufe der Zeit sehr eng miteinander verbunden: Araber arbeiten auf israelischen Baustellen, in Cafés und Läden, Schulen und Behörden, israelische Betriebe in Siedlungen im Westjordanland haben Zehntausende palästinensische Mitarbeiter. Jugendliche aus Ost-Jerusalem schätzen das Nachtleben im Westen. Und im Norden Israels, wo ein Großteil der israelischen Araber wohnt, lebt man von jüdischen Kunden.

"Das Schwierigste ist nicht so sehr die Gewalt", sagt Mohammad Khalili, der Verkäufer im Supermarkt: "Es ist, dass sie aus heiterem Himmel kommt. Man sieht nicht, was jemand in der Tasche hat, und man weiß nicht, was in seinem Kopf vor sich geht. Ich bin Araber, und fürchte mich vor meinen eigenen Leuten. Das ist ein furchtbares Gefühl. Auch weil ich nichts dagegen tun kann."

Die Frustration sitzt tief

Denn diejenigen, die die Taten begehen, sind längst nicht mehr erreichbar. Am Nachmittag haben sich in Jebel Mukaber, einer Ortschaft zwischen Jerusalem und Betlehem, Dutzende Jugendliche versammelt, die Gesichter verborgen hinter Palästinensertüchern und Schirmmützen. Die Frustration sitzt tief: Nur wenige Meter weiter, die Grenze bislang nahezu unsichtbar, steht die israelische Siedlung Armon HaNatziv, die von einem ganz normalen Jerusalemer Stadtteil nicht mehr zu unterscheiden ist.

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Doch trotz der unsichtbaren Ortsgrenze: Die Unterschiede sind deutlich sichtbar. Auf der einen Seite wohnen israelische Mittelständler zu einigermaßen erträglichen Preisen, die Straßen sauber, das Internet schnell. Auf der anderen Seite hingegen kommt die Müllabfuhr unregelmäßig, wer seine Post einigermaßen regelmäßig haben möchte, mietet sich am besten ein Postfach im nächsten Postamt.

Immer wieder hat die Jerusalemer Stadtverwaltung versprochen, ihre Dienstleistungen besser zu machen. Passiert ist das nicht - allerdings auch, weil Araber im Kommunalparlament massiv unterrepräsentiert sind. Die Bevölkerung in Ost-Jerusalem boykottiert die Kommunalwahlen weitgehend. Wobei eine ganze Reihe von arabischen Dörfern, die historisch nicht zu Jerusalem gehören, zwangsweise eingemeindet wurde. Ortschaften wie Jebel Mukaber würden gerne ihre Angelegenheiten selbst regeln, dürfen es aber nicht.

PA: "Marionette Israels"

Noch ist es ruhig unter den Jugendlichen, denn Israelis sind weit und breit nicht in Sicht. Im Gespräch berichten die jungen Männer von Arbeitslosigkeit, von Hoffnungslosigkeit. Laut und ausgesprochen wütend, spricht man darüber, wie man von der palästinensischen Regierung allein gelassen worden sei: Man nimmt es Präsident Mahmud Abbas übel, dass er Monate lang mit US-Außenminister John Kerry und Netanjahu verhandelt hat, ohne etwas zu erreichen. Und in Momenten wie diesem wird deutlich, dass die Proteste, der gewaltsame Aufstand der palästinensischen Jugend sich nicht allein gegen Israel richtet, sondern auch gegen die Regierung in Ramallah.

Sie sei, wird immer gesagt, eine Marionette Israels, die nur dazu da sei, Israel die Fortsetzung der Siedlungspolitik zu ermöglichen. In der Logik dieser Jugendlichen ist Gewalt "die einzige Sprache, die Netanjahu versteht." Doch vor allem gibt sie diesen jungen Männern Macht: "Mit dem Messer in der Hand wird jeder zum Soldaten", sagt ein älterer Mann, der vor sein Haus getreten ist. Ein paar Mal ruft er laut, die jungen Männer sollten nach Hause gehen: "Schaut doch, was Ihr uns eingebrockt habt."

Mauer-Politik

Am Sonntag haben Arbeiter an der Ortsgrenze zur Siedlung Armon HaNatziv auf einer Länge von 300 Metern eine provisorische Mauer aus gut neun Meter hohen Betonbarrieren aufgestellt. So sieht die Strategie der israelischen Sicherheitskräfte nun aus: Von Jebel Mukaber aus seien immer wieder Steine und Flaschen auf Fahrzeuge geworfen worden; drei Messer-Attentäter stammten von dort, sagen Polizei-Sprecher. Wenn es nach dem Willen der Polizei ginge, dann würde man auch anderswo Mauern und Zäune errichten: Issawijah, direkt neben der Hebräischen Universität, würde man gerne für an die 4,6 Millionen Euro komplett einzäunen.

Doch der Mauerbau ist umstritten, auch in der Regierung: Vor allem die Siedlerpartei "Jüdisches Heim", die Netanjahu eine hauchdünne Mehrheit von einer Stimme im Parlament verschafft, sieht darin eine Teilung Jerusalems. Deshalb hat Netanjahu am Montag auch das Projekt erst einmal auf Eis gelegt.

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In Jebel Mukaber streitet der alte Mann weiter mit den Jugendlichen, die ihm vorwerfen, die "palästinensische Sache zu verraten"; es sei nicht ihre Schuld, dass die Israelis dort die Barrieren aufgestellt haben. "Wer ist denn sonst dafür verantwortlich?", gibt der Mann zurück: "Ihr macht mit Eurem Krawall alles nur noch schlimmer. Schaut es euch an: Unsere Leute werden an jeder Straßenecke kontrolliert und festgenommen. Palästinenser verlieren ihre Arbeit, weil die Israelis Angst haben. Das schadet uns doch selbst."

Doch die Gräben verlaufen auch zwischen den Palästinensern tief und werden nur dadurch überbrückt, dass sich niemand finden lässt, der der Regierung in Ramallah noch vertraut. "Wir haben zu oft, zu viele Versprechungen von Abbas zu hören bekommen", sagt der Mann: "Er schafft es nicht einmal, zurückzutreten." 13 Mal hat Abbas seit 2010 seinen Rücktritt erklärt; im Amt ist er trotzdem noch.

Abbas selbst reagiert auf den Vertrauensverlust in der Öffentlichkeit, indem er die Gewalt verurteilt, die Täter aber als Opfer darstellen lässt, wenn sie getötet oder verletzt werden. Israel schieße scharf auch auf Kinder und Jugendliche.

Tatsächlich ist es so, dass es den israelischen Sicherheitskräften vor einigen Wochen erlaubt wurde, auch scharfe Munition gegen Steinewerfer anzuwenden; Messer-Attentäter wurden in mehreren Fällen erschossen, obwohl sie bereits überwältigt waren. "Es ist genau das, was wir mit Opfern meinen", erklärt ein Mitarbeiter von Abbas:

Wir heißen die Angriffe nicht gut, aber wenn auf einen Jugendlichen geschossen wird, der schon am Boden liegt, dann ist das eben eine kaltblütige Hinrichtung ohne Todesurteil, und keine Notwehr mehr.

Allerdings verzichtet die palästinensische Regierung auch auf die Erwähnung der Vorgeschichte.

Eine Meinung, die übrigens auch viele israelische Medien teilen: Immer wieder wird kritisiert, dadurch werde die Todesstrafe de facto eingeführt, und das, obwohl eine Parlamentsinitiative, die die Einführung der Todesstrafe forderte, im Juni von Netanjahu rasend schnell in der Schublade versenkt wurde. Mehrere namhafte Rabbiner der Siedlerbewegung erklärten am Wochenende, es sei aus religiöser Sicht auch dann nicht hinnehmbar, wenn ein zu diesem Zeitpunkt wehrloser Mensch getötet werde, wenn dieser kurz zuvor einen Mord begangen habe.

Politiker setzen auf Waffengewalt

Trotzdem setzen viele Politiker derzeit neben der Abgrenzung auf Waffengewalt: So wurden die Anforderungen an die Erteilung eines Waffenscheines herunter gesetzt; mehr als 5.000 Personen haben seit Monatsbeginn eine Erlaubnis zum Waffenbesitz beantragt. Nir Barkat, der Bürgermeister von Jerusalem, forderte mehrmals dazu auf, jeder, der eine Waffe besitze, solle diese jederzeit bei sich tragen, und im Zweifel auch anwenden. Er selbst ließ sich bei einem Besuch in Issawijah mit der Waffe in der Hand filmen

Viele folgen seinem Rat. Haben, wie der Kunde im Jerusalemer Supermarkt, die Hand sehr schnell am Hosenbund: "Wenn ich die Wahl zwischen meinem eigenen Leben und dem Leben eines möglichen Attentäters habe, dann wähle ich natürlich mein eigenes Leben", sagt der Mann. Ob er sich keine Sorgen mache, einen Unschuldigen zu töten? "Nein, überhaupt nicht." Er habe das Schießen beim Militär gelernt.

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Die israelische Generalstaatsanwaltschaft stellte indes am Montag klar, dass ein Waffenschein kein Freibrief für Selbstjustiz sei: "Wir werden jeden Fall, in dem eine Waffe von Privatpersonen abgefeuert wird, genau prüfen." Zuvor hatte es mehrere Fälle gegeben, in denen Personen angegriffen wurden, die in den Verdacht geraten waren, ein Attentat verüben zu wollen.

In Be'er Schewa wurde am Sonntag ein Flüchtling aus Eritrea getötet, nachdem ein Attentäter in der zentralen Busstation um sich geschossen hatte. Umstehende hatten den Mann beschuldigt, ein Komplize des Attentäters zu sein. Gleichzeitig gibt es auch Fälle, die längst nicht so klar gelagert sind, wie sie auf den ersten Blick scheinen: So wurde im Norden Israels ein Araber vor Gericht gestellt, der seinen Wagen in eine Menschengruppe gesteuert hatte.

Während des Verfahrens stellte sich heraus, dass er zuvor von der Gruppe tätlich angegriffen worden war. "kein Attentat", befand die Richterin; verurteilt wurde der Mann, weil es sich nach Ansicht des Gerichts dennoch nicht um Notwehr gehandelt hat: Er hätte auch einfach davonfahren können.