Drohnen-Krieg - Geschichten hinter den Opfern

In den "Drone Papers" wurde der amerikanische Drohnenkrieg enthüllt, das Schicksal der Opfer ist weithin unbekannt geblieben

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Vor wenigen Tagen veröffentlichte das Investigativportal "The Intercept" die bis dato ausführlichsten Enthüllungen zum US-amerikanischen Drohnen-Krieg, die sogenannten "Drone Papers". Zu verdanken war dies einem anonymen Whistleblower, der mittlerweile als "zweiter Edward Snowden bezeichnet wird.

Dieser Vergleich ist sicherlich berechtigt, wenn man das Ausmaß der Enthüllungen in Betracht zieht. Durch "Drone Papers" wurden viele schon bekannte Tatsachen zum Drohnen-Krieg bestätigt, vor allem die willkürliche Auswahl der Zielpersonen sowie die hohe Anzahl ziviler Todesopfer. Was jedoch weiterhin eher in den Hintergrund gerät, sind die individuellen Geschichten der Opfer, die das Ausmaß dieser nun seit vierzehn Jahren anhaltenden Mordkampagne auf einer emotionalen Ebene um einiges deutlicher machen.

Das Mädchen ohne Gesicht

Ein Fokus der "Drone Papers" liegt auf die ostafghanische Provinz Kunar. Diese gehört zu jenen Gebieten, in denen der Krieg der Aufständischen gegen die afghanische Armee und ihren westlichen Verbündeten am heftigsten tobt. Vor allem das dort liegende Korengal-Tal hat sich in den letzten Jahren zu einem wahren Friedhof für US-amerikanische Soldaten entwickelt. "Der Widerstand in Kunar war schon immer groß. Dies wird nicht nur gegenwärtig deutlich, sondern war auch im Fall der Sowjet-Invasion in Afghanistan in den 1980er-Jahren zu beobachten", stellt etwa Ryan Devereaux von "The Intercept", der maßgeblich an den "Drone Papers" mitwirkte, fest.

Aus diesem Grund wird Kunar regelmäßig von Drohnen heimgesucht. Dies war auch im September 2013 der Fall, als eine solche Drohne den Pick-Up der Familie Rashid traf. Vierzehn Menschen, hauptsächlich Frauen und Kinder, wurden dabei getötet. Nur die damals vierjährige Aisha überlebte. Durch den Angriff verlor sie nicht nur ihre gesamte Familie, sondern auch ihr Gesicht.

Aishas Augen und Nasen wurden zerfetzt. Nachdem Verwandten der Familie von dem Angriff gehört hatten, eilten sie zum Tatort und brachten das kleine Mädchen umgehend in ein Krankenhaus im naheliegenden Asadabad. Da Aishas Verletzungen jedoch zu schwer waren, konnte man ihr dort nicht helfen.

Im späteren Verlauf wurde das Mädchen ohne Gesicht auch in einem Krankenhaus in Kabul behandelt. Dort wurde sie unter anderem von Hamid Karzai, dem damaligen Präsidenten Afghanistans, besucht. In einem Interview beschrieb der Staatschef seine Begegnung mit Aisha und wie er ihr gegenüber in Tränen ausbrach. "An diesem Tag wünschte ich mir, dass es besser für sie gewesen wäre, gemeinsam mit ihrer Familie begraben worden zu sein", meinte Karzai.

Doch Aisha starb nicht. Sie lebt immer noch, allerdings nicht mehr in Afghanistan. Mittlerweile wird sie in einem Krankenhaus in den USA behandelt. Laut den Aussagen ihrer Familienmitglieder geschah dies ohne deren Einverständnis. Der Verdacht liegt nahe, dass Aisha nach der medialen Aufmerksamkeit wortwörtlich zum Gesicht des Drohnen-Krieges in Afghanistan aber auch anderswo geworden wäre und deshalb außer Reichweite geschafft wurde.

Der falsche Taliban-Kommandant

Ein ähnliches Schicksal traf auch die Familie von Sadiq Rahim Jan. Im Juli 2012 wurde der 21-Jährige, der einen Lebensmittelstand im Dorf Gardda Zarrai in der ostafghanischen Provinz Paktia führte, Opfer eines Drohnen-Anschlags. Sadiq, der in Stücke zerfetzt wurde, wurde kurz darauf von afghanischen Mainstream-Medien als vermeintlicher Taliban-Kommandant angeführt. Mit den Extremisten pflegten allerdings weder er noch seine Familie irgendwelche Kontakte. Nachdem Sadiqs Vater sich bei der örtlichen Polizei über die Ermordung seines Sohnes beschwerte, wurde ihm gedroht. Er solle sich mit seinen Anschuldigungen zurückhalten, hieß es.

Heute lebt die Familie in Armut. Mit Sadiq hat sie ihren Haupternährer verloren. Warum der junge Afghane von den Medien zum Taliban-Kommandanten deklariert wurde, ist weiterhin ungeklärt. Die jüngst veröffentlichten "Drone Papers" machen allerdings deutlich, dass derartige Praktiken keine Seltenheit sind.

In diesem Kontext sollte allerdings auch die Rolle viele afghanischer Medien nicht unerwähnt bleiben. Viele von ihnen wurden kurz nach dem NATO-Einmarsch mit westlichen Hilfsgeldern gefördert. Dies hatte keineswegs mit der Förderung der Pressefreiheit am Hindukusch zu tun. Vielmehr wurde darauf abgezielt, Medienorgane zu schaffen, welche die jeweiligen Interessen, zum Beispiel jene der NATO oder der USA, repräsentieren. Im Fall von Sadiq wurde dies etwa an Radio Azadi, einem afghanischen Radiosender, der vom US-Kongress gefördert wird, deutlich, der Sadiq als "Taliban-Kommandanten" bezeichnete, ohne einen einzigen Journalisten nach Gardda Zarrai geschickt zu haben.

Der Tod der Großmutter

Eine solche Berichterstattung prägt mittlerweile den Alltag. Im Oktober 2012 zielte eine US-amerikanische Drohne auf den Garten eines Hauses in Waziristan, einer pakistanischen Region an der Grenze zu Afghanistan. Zu diesem Zeitpunkt pflückte Momina Bibi gemeinsam mit ihren Enkelkindern Nabila und Zubair Okra. Kurz darauf schlug eine Rakete in den Garten ein. Vor den Augen der Kinder wurde die ältere Frau ermordet. Die damals neunjährige Nabila wurde mit Schrapnell-Wunden übersät. Ihr Bruder, der dreizehnjährige Zubair, musste schwer verletzt in ein Krankenhaus nach Islamabad gebracht werden. Nachdem die Behandlung zu teuer wurde, verlegte man den Jungen nach Peschawar. Seit dem Angriff sind sowohl Nabila als auch Zubair sowie deren jüngere Schwester Amina, die einen Hörschaden erlitt, traumatisiert. Ihr Vater, Rafiq Rehman, war während des Angriffs nicht Zuhause.

In Waziristan tobt der Drohnen-Krieg der Amerikaner nun seit über elf Jahren. Wie im Jemen oder in Somalia sind die Angriffe in diesem Gebiet besonders umstritten, da die USA in Pakistan offiziell keinen Krieg führen. Nichtsdestotrotz gehört in Waziristan der Krieg zum Alltag. Die Menschen werden von extremistischen Gruppierungen, dem pakistanischen Militär sowie den US-Drohnen tagtäglich terrorisiert.

Nach dem Angriff auf die Rehman-Familie fand das altbekannte Prozedere statt. Die Medien berichteten, wieder einmal von einem Drohnen-Angriff in Waziristan, bei dem "mutmaßliche Terroristen" getötet wurden. Was dies bedeutet, ist mittlerweile klar. Abgesehen davon, dass laut dem Weißen Haus jeder "junge Mann im wehrfähigen Alter" als "feindlicher Kombattant" gilt, tragen viele Medien ihren Beitrag zur Misere bei, indem sie jegliche Berichte, etwa jene des pakistanischen Geheimdienstes, der eng mit den USA kooperiert, ohne jegliche Skepsis übernehmen.

Im Fall von Momina Bibi wurde erst durch Recherchen des in London ansässigen "The Bureau of Investigative Journalism" (TBIJ) klar, dass kein Terrorist mit Kalaschnikow, sondern eine alte Frau beim Okra-Pflücken getötet wurde. Eine herausragende Rolle spielte auch Shahzad Akbar, ein pakistanischer Anwalt, der sich für die Rechte von Drohnen-Opfern und ihren Hinterbliebenen einsetzt. Im Oktober 2013 reiste die Familie Rehman nach Washington, wo sie vor dem US-Kongress ihre Zeugenaussagen abgeben sollten. Akbar hätte sie eigentlich begleiten sollen, allerdings wurde ihm die Einreise verweigert. Obwohl hierfür kein Grund genannt wurde, meint Akbar, dass sein Engagement gegen die Drohnen-Politik der USA der Auslöser war.

Als Nabila und Zubair vor dem Kongress ihre Aussagen machten, war der Saal alles andere als gefüllt. Von den 430 Repräsentanten waren nur fünf anwesend. Das Schicksal der Kinder aus einem weit weg gelegenen Dorf in den Bergen schien so gut wie niemanden zu interessieren.

Während der Zeugenaussagen brach der Dolmetscher in Tränen aus. Nabilas Vater richtete sich an alle Amerikaner und stellte immer wieder die Frage, warum es zu diesem Angriff kam und ob seine Töchter etwa wie Terroristen aussehen würden. Ähnliches gab Nabila von sich: "Was hatte meine Großmutter getan? Warum wurde sie umgebracht?" All diese Fragen blieben bis heute unbeantwortet.