Regierungschef Borissov: "Ich kann Leute aus Afghanistan schwer als Flüchtlinge bezeichnen"

Tod eines afghanischen Flüchtlings in Bulgarien führt zu Solidaritätsbekundungen mit dem Todeschützen, einem Grenzpolizisten

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Unter einer Straßenbrücke in der Nähe des Dorfs Djulovo bei Sredets im Bezirk Burgas kommt es am Donnerstagabend, 15. Oktober 2015, nach 22 Uhr zu einer Begegnung zwischen bulgarischen Grenzpolizisten und afghanischen Flüchtlingen. Eine Kugel aus der Dienstwaffe eines Beamten tötet einen Afghanen.

Noch bevor die genauen Umstände des tragischen Tods eines Flüchtlings zweifelsfrei geklärt sind, entsteht in der bulgarischen Öffentlichkeit eine Solidaritätskampagne mit dem Todesschützen Valkan Hambarliev. Er sei für seinen Einsatz gegen "Grenzverletzer" und zum "Schutz der bulgarischen Grenze", dreißig Kilometer von ihr entfernt, mit einem staatlichen Orden auszuzeichnen, fordern hunderte Demonstranten und zigtausend Unterzeichner einer Unterschriftensammlung.

"Gestern Abend ist unsere Grenzpatrouille aus drei Beamten im Gebiet der Stadt Sredets auf ungefähr fünfzig Verletzer gestoßen. Als sie Handlungen zu ihrer Überprüfung unternehmen, stoßen sie auf Widerstand, in dessen Folge einer der Beamten von der Schusswaffe Gebrauch macht. Er schießt in die Luft, dabei kommt es nach seinen Angaben zu einem Querschläger. Ein Grenzverletzer wird verwundet und stirbt."

So lautet die erste Schilderung des Zwischenfalls, die der Hauptsekretär des Innenministeriums Georgi Kostov am nächsten Morgen der Presse zu Protokoll gibt. Die "illegalen Immigranten", alle zwischen zwanzig und dreißig Jahren und in sportlicher Form, seien unbewaffnet gewesen, hätten sich aber agressiv verhalten.

Auf ihrer Pressekonferenz erklärt die Staatsanwältin des Kreises Burgas KalinaTschapkanova, der Warnschuss in die Luft sei unter der Brücke gefallen und dort zum Querschläger geworden. "Die Untersuchung der Tatwaffe hat ergeben, dass sich in ihr sieben von acht möglichen Patronen befanden, es ist also ein Schuss gefallen", sagt sie. Der Verletzte sei fünfundsechzig Meter von der Brücke medizinisch behandelt worden und dort gestorben. Bei den Festgenommenen seien keine persönlichen Dokumente gefunden worden, aber Mobiltelefone und eine Schusswaffe.

Es gibt Widersprüche in den Aussagen von Hauptsekretär Kostov und Staatsanwältin Tschapkanova etwa zur Frage, ob bei den Migranten Waffen gefunden wurden, doch auch eine Woche später haben diese keine Klärung durch die Behörden erfahren.

Am vergangenen Donnerstag reagierte Georgi Kostov auf die Journalistenfrage, wann die Ergebnisse der angekündigten ballistischen Untersuchung bekanntgegeben würden, gereizt. "Diese Frage ist nicht für mich", beschied er. "Wir warten auf das unabhängige Gutachten der Staatsanwaltschaft. In Ermittlungsverfahren gibt es Fristen und an deren Ende steht eine offizielle Stellungnahme. Ich habe mit der Art und Weise zu tun, wie die Ermittlungen durchgeführt werden, nichts zu tun. Es ist sogar nicht korrekt, dass ich ihren Verlauf kommentiere, denn das könnte ihre Objektivität und Unabhängigkeit in Zweifel ziehen."

Zeugen widersprechen der Darstellung der Polizei

Die Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft der Öffentlichkeit seit einer Woche neuere Erkenntnisse zum Tod des Afghanen vorenthält und bisher keine Resultate der ballistischen Untersuchung bekannt gemacht hat, muss tatsächlich misstrauisch stimmen. Umso mehr als das Bulgarische Helsinki-Komitee (BHK) am 20. Oktober 2015 in einer Presseerklärung Aussagen afghanischer Augenzeugen publiziert hat, die in frappantem Widerspruch zur offiziell verlauteten Version des Tathergangs stehen.

Die BHK-Mitarbeiter konnten zwanzig der vierundfünfzig Afghanen im Flüchtlingsverteilzentrum Elhovo befragen. Nach ihren übereinstimmenden Aussagen soll es sich nicht um drei Polizisten, sondern um vier oder fünf gehandelt haben. Und von diesen hätten mindestens zwei mindestens vier Schüsse abgegeben. Entgegen der Aussage der ermittelnden Staatsanwältin hätten die Flüchtlinge persönliche Dokumente bei sich getragen.

Einen krassen Widerspruch gibt es zum Alter des Opfers. Noch am 16. Oktober 2015 berichteten Medien unter Berufung auf einen Anonymität wünschenden Polizisten, das Opfer sei 56 Jahre alt gewesen. Das Bulgarische Helsinki-Komitee will jedoch mit dem 17-jährigen Bruder des Opfers gesprochen haben, der ausgesagt habe, sein Bruder Ziahullah Vafa sei 19 Jahre alt gewesen.

"Die Polizei will im Moment nicht nur nicht mit uns reden, sie will mit gar niemandem reden. Sie stellt sich auf den Standpunkt, dass sie keine Aussagen macht, bevor die Untersuchung abgeschlossen ist", antwortet BHK-Vorsitzender Krassimir Kanev auf telefonische Nachfrage, ob seine Organisation die Behörden mit den differierenden Aussagen der Afghanen zur Anzahl der Polizisten, der Menge der gefallenen Schüsse, dem Vorhandensein persönlicher Dokumente und dem Alter des Getöteten konfrontiert habe.

Den im Verteillager Elhovo internierten Flüchtlingen wird der Kontakt zu Journalisten verwehrt. Dies sei nicht rechtens, so Kanev, aber gängige Praxis in Bulgarien. "In einigen Tagen müssen sie freigelassen werden, dann steht dem Kontakt zu Journalisten nichts mehr imWege", sagt der BHK-Chef. Für ihn ist eindeutig, dass der Gebrauch der Schusswaffe nicht gerechtfertigt war, da die Afghanen unbewaffnet gewesen seien und die Polizisten nicht bedroht hätten.

"Die Flüchtlinge haben ausgesagt, beim Eintreffen der Polizisten weggerannt zu sein, um sich der Festnahme zu entziehen. Als ein Schuss einen von ihnen getroffen habe, hätten sie sich alle auf den Boden gelegt", berichtet Krassimir Kanev. Selbst wenn sie verbal agressiv gewesen wären, hätte das den Schusswaffeneinsatz nicht gerechtfertigt, da gemäß §2 der Europäischen Menschenrechtskonvention und nach bulgarischer Rechtslage Schusswaffeneinsatz nur bei absoluter Notwendigkeit zulässig sei.

Das Bulgarische Helsinki-Komitee will Ziahullah Vafas Bruder in einem gegegebenfalls bevorstehenden Gerichtsprozess um den Tod seines Bruders Rechtsbeistand gewähren, ihn notfalls bis zum Europäischen Menschengerichtshof begleiten. "Ob er das in Anspruch nimmt, muss sich zeigen. Im Moment befindet er sich noch in einem Schockzustand und wir wollen ihn zu nichts drängen", sagt Kanev. Auf jeden Fall werde das BHK ihn und die anderen Afghanen bei ihren Asylverfahren unterstützen.

Dass es ein ordentliches Ermittlungsverfahren geben wird, glaubt Kanev nicht, das habe es in ähnlichen Fällen in Bulgarien bisher nie gegeben. Er sieht eine Parallele zu einem Vorfall aus dem Jahre 2000, als 93 Iraker festgenommen wurden und dabei ebenfalls einer durch einen angeblichen Querschläger zu Tode kam. Auch in diesem Falle ist der Schütze laut Krassimir Kanev nicht verurteilt worden.