(Un)sichtbare Opfer im Syrienkonflikt

Zur Ästhetisierung des Todes in der aktuellen Medienlandschaft

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Die russische Offensive in Syrien passiert medial mehr oder weniger im Unsichtbaren. Es finden sich kaum Photographien davon in den Medien. Es finden sich einige wenige Bilder von Kriegsgerät und Aufnahmen der aus den Golfkriegen bekannte Militärperspektive, der Blick aus dem Flugzeug, der Bombe nach, die hunderte Meter tiefer explodiert. In grobem Schwarz/Weiß, ohne Bezug zur Größenverhältnissen, Vegetation und Menschen, stellen diese Bilder eine abstrakte Darstellung des Sterbens dar.

Diese Bilder implizieren das Sterben, den Tod vieler Personen, jedoch in nicht-persönlichen, nicht-menschlichen Kategorien. Die Opfer bleiben in diesen Bildern unsichtbar. Das liegt einerseits daran, dass das russische Militär von diesen keinerlei Aufnahmen zur Verfügung stellt, und anderseits daran, dass kaum medialer Austausch zwischen IS und westlichen Medien passiert.

Bild: Russisches Verteidigungsministerium

Bis auf wenige Ausnahmen finden sich weder professionelle Pressephotographien noch Amateuraufnahmen aus diesem Gebiet in der westlichen Berichterstattung. Ausnahmen bestehen unter anderen in den Alltagsreportagen, welche z.B. das Vice Magazin zu Syrien veröffentlichte oder auch aus den Propagandafilmen des IS selbst. Einige dieser Filme funktionieren dabei vor allem über die explizite Inszenierung des Todes. Der zynische, respektlose Umgang mit den Toten, den Körpern der soeben vor laufender Kamera Hingerichteten, ist hier intendiert. Die Grausamkeit dieser Bilder liegt in der unmittelbaren Sichtbarkeit eines "realen" Mordes, der noch dazu auf brutalste Art und Weise an Unschuldigen begangen wird.

Taten dieser Art drangen bisher nur in seltenen Fällen als Bild, als konkrete Photographie in unsere Medienwirklichkeit ein. Hier ist jedoch in letzter Zeit eine Häufung zu beobachten. Mittels Bildzeitung werfen wir einen kurzen Blick in einen LKW in welchem sich 71 tote Flüchtlinge befinden. Wir werden aufgerüttelt durch die Photographie eines toten Jungen am Strand. Die Bilder vom Tod sind längst Konsumgut. Dennoch spaltet deren Veröffentlichung noch immer die mediale Hegemonie. Die Frage ist letztendlich: Welches Tabu wird bei der Veröffentlichung von Photographien toter Körper verletzt?

"Aylan", der Name dieses Jungen, der symbolisch für tausende weitere Schicksale steht, die unsichtbar bleiben, ist inzwischen weltweit bekannt. Diese Bekanntheit beruht auf den Bildern, welche von der Photographin Nilüfer Demir von Aylans totem Körper angefertigt wurden. Es liegt auf der Hand, dass ein solcher Verlust, wie ihn der Tod eines Kindes darstellt, nicht in ästhetische Kategorien übersetzt werden kann. Jede Photographie davon bleibt für Nicht-Betroffene immer nur Klischee. Ein Schatten eines Verlusts der uns als Publikum nicht persönlich betrifft. Wir vermissen nichts. Was wir empfinden, ist bloß Vorstellung, das Vermissen bleibt virtuell. Diese Differenz zwischen Wirklichkeit und Abbildung gilt für alle Pressebilder. Sie sticht jedoch beim Versuch, dieses singuläre Erlebnis am Ende des Lebens eines jeden Menschen, den Tod, darzustellen, besonders stark hervor.

Der den Photographien vom Sterben implizite Voyeurismus, der Schock, der Verkaufszahlen fördert, ist dabei jedoch nicht das Problem. Die monetäre Bewertung der Bilder vom Tod ist ebenso nur Konsequenz, nicht Kern des Tabus. Auch die Frage nach der medienrechtlichen Lage führt zu keiner Erkenntnis in diesem Fall: Darf der Tod eines Kindes abgebildet und einer breiten Öffentlichkeit als Bild offenbart werden? Ja er darf; solange keine Persönlichkeitsrechte verletzt werden, ist daran rechtlich nichts auszusetzen. Im Fall des syrischen Jungen Aylan gibt es eine Einverständniserklärung des Vaters, der hier stellvertretend für seinen toten Sohn die Erlaubnis erteilt .

Der Tabubruch, der bei der Veröffentlichung dieser Photos geschieht, liegt auf ästhetischer Ebene. Im Abbilden verliert der Tod seine Unfassbarkeit. Die Bilder von toten Körpern entheben den Tod des Rituals, in welches er gefasst wird, und damit seiner respektgebietenden Einzigartigkeit. Der tote Körper ist als Photographie nicht mehr heilig, sondern steht im kompetitiven Vergleich zu anderen toten Körpern. Neben unzähligen anderen Photographien ertrunkener Flüchtlingskinder wie diejenigen, die auf Twitter von MigrantReport veröffentlicht wurden, wirken die Photographien, welche Demir vom toten Körper Aylans angefertigt hat, pietätvoller.

Aylan liegt in der Dünung des Meeres, als ob er schlafen würde, die Arme am Körper angelegt, die Beine gerade, das Gesicht nach unten im Sand verborgen. Die meisten anderen Photographien von ertrunkenen Kinderleichen zeigen hingegen wild verrenkte Körper, die Gliedmaßen unnatürlich vom Körper abstehend, mit aufgerissenen Augen. Diese Bilder bieten einen grauenvollen, einen "unmenschlichen" Anblick. Die verschiedenen Photographien vom Tod unterscheiden sich also nicht nur in ihrer Qualität in Bezug auf ihre Gemachtheit, die gewählte Bildsprache, sondern auch in Bezug auf die Qualität des Motivs.