Afghanistan: Zurück in den Krieg

Taliban wollen weitere Gebiete in der Helmand-Provinz erobert und dort afghanische Soldaten vertrieben haben. Bild: shahamat

Deutschland will vermehrt afganische Flüchtlinge abschieben, das Land könne man nicht "pauschal als Bürgerkriegsland bezeichnen"

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In Afghanistan gehört Krieg zum Dauerzustand. Seit nun mehr als vierzehn Jahren sind internationale Truppen am Hindukusch stationiert. Vor deren Besatzung befand sich das Land in den 90er-Jahren in einem blutigen Bürgerkrieg, der von verschiedenen Kriegsfürsten angeführt wurde. Diese wiederum erlangten ihre Macht durch den vorhergehenden Stellvertreterkrieg des Westens mit der Sowjetunion, der in den 1980er-Jahren stattfand und mit dem Fall des Eisernen Vorhangs ein Ende fand.

Seit jeher gehört Afghanistan zu jenen Ländern, welches viele Flüchtlinge produziert. Bis vor kurzem waren Menschen afghanischer Herkunft die größte Flüchtlingsgruppe weltweit. Dann brach das Chaos in Syrien aus, welches nichts anderes als ein weiterer Stellvertreterkrieg zwischen den Großmächten ist. Mittlerweile sind die meisten Flüchtlinge der Welt Syrer, was nicht bedeutet, dass sich die Zahl der flüchtenden Afghanen verringert hätte. Gegenwärtig ist weiterhin mehr als ein Zehntel der Gesamtbevölkerung auf der Flucht.

Taliban wollen weitere Gebiete in der Helmand-Provinz erobert und dort afghanische Soldaten vertrieben haben. Bild: shahamat

Viele dieser Flüchtlinge kommen seit Jahren nach Europa. Für die hiesigen Behörden war eine Flucht aus Afghanistan stets selbstverständlich. Wer will schon in einem Land leben, in dem seit 35 Jahren permanent Krieg herrscht, dessen Kindersterblichkeitsrate zu den höchsten der Welt gehört, Nahrungsmittelknappheit und extreme Armut weiterhin zum Alltag gehören und brutale Milizen das Sagen haben, dachte man sich. Aus diesem Grund wurde schnell Asyl gewährt.

An diesen Zuständen hat sich auch seit der NATO-Intervention im Land nichts geändert. Tatsächlich fand in mehreren Punkten eine extreme Verschlechterung statt, welche die Flucht aus einem Land wie Afghanistan nur noch nachvollziehbarer macht. So bricht seit dem westlichen Militäreinsatz im Land die Opiumproduktion jährlich alle Rekorde, was mittlerweile dazu geführt hat, dass lokale Drogenbosse tagtäglich mächtiger werden, während weite Teile der jungen Bevölkerung der Sucht verfallen sind. Allein in Kabul existieren zahlreiche Ecken, in denen man Hunderte von Junkies auffinden kann, die allesamt in trister Zusammenkunft konsumieren.

Auch der Extremismus wurde in den letzten Jahren erfolgreich gesät. Während 2001 in Afghanistan lediglich die Taliban sowie, wenn überhaupt, eine sehr überschaubare Anzahl von Al-Qaida-Kämpfern präsent waren, lassen sich mittlerweile zahlreiche Gruppierungen, von verschiedenen Taliban-Abspaltungen bis hin zu Ablegern des "Islamischen Staates" (IS), finden, die allesamt verschiedenste Ziele verfolgen, regelmäßig Anschläge verüben und brutaler vorgehen als ihre Vorgänger es sich je vorgestellt hätten.

An der Gewalteskalation haben die westlichen Truppen einen entscheidenden Beitrag geleistet, indem sie vor allem mit Drohnen-Angriffen - Afghanistan ist weiterhin das am meisten von Drohnen bombardierte Land der Welt -, willkürlichen Bombardements sowie nächtlichen "Spezialeinsätzen" regelrecht neue Feinde produzierten, welche die Besatzer abgrundtief hassen. Dass ein Familienvater, der seine Kinder durch den Knopfdruck eines in Nevada sitzenden, womöglich deprimierten und überarbeiteten Drohnen-Piloten verliert, zur Waffe greift und sich der nächsten aufständischen Gruppierung anschließt, darf allerdings kaum verwunderlich sein.

Dieser Umstand wurde mittlerweile selbst von US-amerikanischer Seite eingesehen. So meinte etwa Michael T. Flynn, ein ehemaliger General der US-Armee und vormaliger Direktor des militärischen Geheimdienstes DIA, vor kurzem, dass der Drohnen-Krieg "mehr Terroristen produziert, als er tötet".

"Kein pauschaler Krieg"

In Anbetracht der gegenwärtigen Flüchtlingsdebatte werden allerdings derartige Tatsachen beiseite gedrängt. Da der rechtspopulistische Diskurs dominiert, sehen sich europäische Politiker gezwungen, Flüchtlinge im Land auf irgendeine Art und Weise loszuwerden. Auch die Bundesregierung beteiligt sich an diesem gefährlichen Spiel, indem sie vor kurzem erklärte, Flüchtlinge aus Afghanistan vermehrt abschieben zu wollen.

"Damit ist tatsächlich jenes Afghanistan gemeint, was oben beschrieben wurde. Jenes Afghanistan, in dem die deutsche Bundeswehr weiterhin stationiert ist und - so behaupteten es zumindest lokale Berichterstatter - erst vor wenigen Wochen an heftigen Kampfhandlungen im nördlichen Kunduz beteiligt gewesen sei, nachdem Aufständische die Hauptstadt der Provinz überrannt und zeitweilig unter ihre Kontrolle gebracht hatten. In diesem Kontext sollte man auch hervorheben, dass von jenem Afghanistan die Rede ist, in dem US-amerikanische Kampfjets Krankenhäuser bombardieren, wie jenes der Organisation "Ärzte ohne Grenzen" (MSF) im erwähnten Kunduz."

Bei der jüngsten Bundespressekonferenz bezüglich dieses Themas bekam man den Eindruck, dass all dies halb so schlimm sei. Laut Regierungssprecher Steffen Seibert herrsche ja nicht überall Krieg. Afghanistan sei nicht "pauschal als Bürgerkriegsland zu bezeichnen", so Seiberts Wortlaut. Was das genau bedeuten soll, bleibt weiterhin offen. Wo ist ein pauschaler Krieg? Wo herrscht er und wo nicht? Was ist als Kriegszustand zu bezeichnen und was nicht? Herrscht in Städten wie Kabul etwa "kein pauschaler Krieg", weil dort weniger Anschläge und Gefechte stattfinden als anderswo? Wären dieser Logik zufolge nicht auch syrische oder irakische Flüchtlinge vermehrt abzuschieben, weil der "pauschale Kriegszustand" in Damaskus oder Bagdad ebenfalls nicht vorhanden ist? Und von was für Zustände würde man eigentlich in Deutschland sprechen, wenn in Berlin fast jede Woche eine Bombe hochgehen würde?

Besonders zynisch waren jedoch die Worte von Innenminister Thomas de Maizière. Dieser meinte, dass die Afghanen doch in ihrem Land bleiben könnten, da so viel Entwicklungshilfe dorthin geflossen sei. Dass die meisten Entwicklungsgelder in die Taschen von Kriegsfürsten und korrupten Politikern flossen, die teils mittlerweile selbst schon planen, Afghanistan zu verlassen, erwähnte er nicht.

Laut der UN wurden allein im Halbjahr 2015 mindestens 5.000 Zivilisten in Afghanistan getötet. Im Jahr 2014 wurden mindestens 710 Kinder im Land Opfer des Krieges, mehr als im Irak, in Syrien oder in Palästina. Die Flucht aus einem solchen Land ist nicht nur nachvollziehbar, sie ist völlig menschlich und selbstverständlich. Wer dies verwehren will, bringt lediglich seine eigene Unmenschlichkeit zum Ausdruck.

Die Abschottungspolitik Deutschlands sowie der EU im Allgemeinen macht allerdings auch eine Heuchelei deutlich, die ihres Gleichen sucht, wenn man bedenkt, dass nicht nur Afghanistan, sondern auch Länder wie der Irak und Syrien ohne westliche Intervention, basierend auf egoistische Machtinteressen, nicht in ihrer heutigen Situation wären.