Syrien: Angriffe auf Krankenhäuser

Westliche Medienberichte weisen dem russischen Militäreinsatz die Schuld zu. Ärzte ohne Grenzen beklagen: "Wie leicht sich alle Konfliktparteien über internationales humanitäres Recht hinwegsetzen"

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Drei Viertel dessen, worauf das Kriegsgeschehen beruht, liegt "im Nebel einer mehr oder weniger großen Ungewissheit", wird Clausewitz im Wikipediaeintrag zu "Kriegsnebel" zitiert. Für den Krieg in Syrien ließe sich ergänzen, dass die Vernebelung zu einem beträchtlichen Teil strategisch und gewollt herbeigeführt wird, in einer völlig anderen Informationsumgebung als zu Lebzeiten des deutschen Militärtheoretikers.

Die große Frage, die augenblicklich die Öffentlichkeit in den US-amerikanischen, britischen, französischen und deutschen Medien zum Thema Syrien dominiert, ist die nach der Zukunft des Staatspräsidenten Baschar al-Assad. Allein dies ist schon eine Vereinfachung, die mit der Medienpräsentation schwieriger Problemfelder zusammenhängt. Die Aufgabenstellung ist in Wirklichkeit schwieriger: Wie kann man das Zusammenleben verschiedener Bevölkerungsgruppen im Rahmen verlässlicher Staatlichkeit absichern?1.

"Al-Assad macht keinen Unterschied zwischen den verschiedenen Glaubensrichtungen"

Es bleibt ein grundlegender Fehler der US-amerikanischen politischen Strategie, dass sie - im Einvernehmen oder unter Vorgaben ihrer arabischen Partner und der Türkei - keinen Plan vorgelegt hat, der die syrische Regierung kooperativ miteinbezieht. Was als politisches Signal die letzten vier Jahre in sämtliche Kommunikationskanäle gespeist wurde, war immer nur die Ansage: "Baschar al-Assad muss weg." Dies war gleichbedeutend mit einer Kampfansage an die ganze Regierung. Im Irak-Krieg, im vergangenen Jahrzehnt, konnte man erleben, was die großen Austauschprogramme der USA (Stichwort: "Die ganze Baath-Armee muss weg") für fatale Folgen hat.

Russisches Kampfflugzeug. Bild: Syrische Nachrichtenagentur Sana

Das Programm "Assad muss weg" wurde auf dem Schlachtfeld von der Förderung oppositioneller Gruppen begleitet, die, mit Waffenlieferungen via Saudi-Arabien und der CIA gestärkt, den Dschihad zum Programm haben und auf gar keinen Fall eine irgendwie akzeptable Alternative zur gegenwärtigen Regierung sind, außer man wünscht die Katastrophe.

Der Westen solle bitte mit der Unterstützung dieser Gruppen aufhören, plädiert der Erzbischof von Aleppo, Jean-Clement Jeanbart:

Niemand in diesem Land kann sagen, was die richtige Lösung ist, denn wir wissen es nicht. Doch obwohl das Regime viele Fehler hat und wir viele Dinge, die es in der Vergangenheit getan hat, nicht billigen können, ist es doch pluralistisch und zivil. Al-Assad macht keinen Unterschied zwischen den verschiedenen Glaubensrichtungen und das ist für die Zukunft unseres Landes sehr wichtig. Jeder künftige Machthaber sollte diesem Pfad folgen und die Menschen in unserem Land so leben lassen, wie sie wollen.

Die Oppositionsgruppen, die allen voran von den USA, Saudi-Arabien und der Türkei unterstützt werden, werden in Kontrast zum IS als vergleichsweise harmlos dargestellt, wie das US-Magazin The Long War Journal dieser Tage noch einmal deutlich machte: Sogar al-Qaida erscheint jetzt moderat im Vergleich zum IS.

Die Machtverhältnisse zwischen FS und den Dschihadisten

Wer wissen will, wie die realen Machtverhältnisse zwischen der sogenannten Freien Syrischen Armee und den al-Qaida-Verbänden der al-Nusra Front, der kann hier einen bezeichnenden Ausschnitt erfahren, bei einer arabischen Journalistin, namens Jenan Moussa, angeblich früher eine Opponentin Baschar-al-Assads.

Die FSA hänge in Hama und Idlib völlig vom Milizenverbund Jaish al-Fatah (angeführt von al-Nusar und Ahrar al-Sham) ab, weil sie kein eigenes Territorium habe und die (Sharia)-Gerichtsbarkeit völlig von der Jaish al-Fatah kontrolliert werde. Jeder Widerstand werde gnadenlos bestraft.

Luftangriffe auf Krankenhäuser in Idlib, Aleppo und Hama

Dies ist, in groben Punkten skizziert, der Hintergrund zu einer Meldung, die sich heute im Spiegel fand. Die Informationen stammen von den Ärzten ohne Grenzen. Deren Artikel zu den Luftangriffen auf Krankenhäuser in Idlib, Aleppo und Hama ist weitgehend identisch mit dem ersten Teil des Spiegelberichts - bis auf die Erwähnung des "russischen Faktors". Der wird im Ärzte-ohne-Grenzen-Bericht nicht erwähnt:

At least 35 Syrian patients and medical staff have been killed, and 72 wounded, in a significant increase of air strikes on hospitals in Northern Syria, according to health staff supported by Médecins Sans Frontières (MSF) inside Syria. The escalation of attacks, which began in late September, have targeted twelve hospitals in Idlib, Aleppo, and Hama governorates throughout October, including six hospitals supported by MSF.

Im Spiegel heißt es dagegen:

Vor rund vier Wochen, am 30. September, begann das russische Militär mit seinen Luftangriffen in Syrien. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) beklagt, dass seither die Zahl der Luftschläge gegen Krankenhäuser in dem Bürgerkriegsland "deutlich zugenommen" habe. Insgesamt seien im Oktober zwölf Hospitäler in den Provinzen Idlib, Aleppo und Hama bombardiert worden, sechs von ihnen werden von MSF unterstützt. Insgesamt seien sechs Kliniken gezwungen gewesen, den Betrieb einzustellen, hieß es weiter.

Dass Krankenhäuser angegriffen werden, ist elendig und man kann dem Ärzte-ohne-Grenzen-Chef Sylvain Groulx nur zustimmen, wenn er beklagt, dass er nach mehr als vier Jahren Krieg noch immer entsetzt darüber ist, "wie leicht sich alle Konfliktparteien über internationales humanitäres Recht hinwegsetzen".

Nur sieht die Darstellung des Krieges, wie sie der Spiegelbericht präsentiert, darüber hinweg, dass es neben dem russischen Faktor noch andere Faktoren gibt, nämlich die Dschihad-Milizen, die in Aleppo, Idlib und Hama Gebiete erobert haben, sicher nicht unter Wahrung humanitärer Maßstäbe, und die nun von der russischen und syrischen Luftwaffe bekämpft werden. (Der Bericht des Nachrichtenmagazins sieht nebenbei auch über eine andere empörte Meldung der Ärzte ohne Grenzen hinweg, die bis heute Morgen ganz oben auf der Homepage war: Die Angriffe auf ein Krankenhaus im Jemen, durch die Koalition unter Federführung Saudi-Arabiens).

Die Spiegel-Meldung dürfte bei den deutschen Lesern einige Aufmerksamkeit bekommen haben, weil darin davor gewarnt wird, dass die Luftangriffe zu einer großen Fluchtbewegung in Syrien führen. Sie suggeriert, dass hauptsächlich Baschar al-Assad und seine Schutzmacht für die Flucht verantwortlich sind. Vor zwei Tagen ist ein Artikel mit der gleichen Botschaft in der New York Times erschienen - ebenfalls mit einem Zitat von Sylvain Groulx, der Russland nicht erwähnt - mit der Anklage, wonach ungenannte syrische Ärztegruppen und Menschenrechtsvertreter verschiedene russische Luftangriffe dokumentiert hätten, die anscheinend (!) Krankenhäuser und medizinische Einrichtungen zum Ziel gehabt hätten.

Over the past few weeks, Syrian medical groups and human rights workers have documented several Russian airstrikes that appeared to target hospitals and other medical facilities.

Das ist höchst suggestiv, weil "appeared" durch überhaupt nichts gedeckt wird, es ist ein Vorwurf, ohne jeden Beleg. Sich darauf stützend, dass dies im Fog of War gar nicht weiter bemerkt wird. Es ist irreführend, weil die Schuld allein auf die russische Luftwaffe gerichtet wird.

Wenn dies auch im Kern eine bittere Wahrheit hat, nämlich dass Krieg mit kriegerischen Mitteln zu bekämpfen, grausig ist: Aber das amerikanische, französische, saudi-arabische und das türkische Militärkommando haben bislang auch keine andere Idee in Syrien verfolgt und die Situation mit herbei geführt.