Afghanistan: Kriegsziel Krankenhaus

Screenshot des Ende August, etwa 4 Wochen vor dem Angriff auf Kundus, veröffentlichten Propagandavideos des neuen Talibankommandeurs Mullah Akhtar Muhammad Mansur.

In der Nacht des 3. Oktober 2015 starben 30 Menschen in einem Krankenhaus von Ärzte ohne Grenzen in Kundus durch das Bombardement US-amerikanischer Spezialeinheiten. Eine Analyse

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Am 28. September 2015, einen Tag vor dem Jahrestag der Vereidigung des neuen Präsidenten Aschraf Ghani der Afghanischen Einheitsregierung, überfielen die Taliban mehr oder weniger überraschend die nordafghanische Provinzhauptstadt Kundus. Überraschend ist das Vorgehen. Der Zeitpunkt ist allerdings weniger überraschend, läuft die Offensive der Taliban doch schon seit April dieses Jahres. Und ziemlich genau vier Wochen vor dem Überraschungsangriff auf Kundus veröffentlichten die Taliban Propaganda Videos über ihre neugewonnene Stärke und ihre Angriffsbereitschaft im Internet.

Der Führer des Deutschen Einsatzkontingents Resolute Support und Kommandeur des Train Advise and Assist Command North (TAAC-N), Brigadegeneral Andreas Hannemann, äußerte sich gegenüber dem Truppeneigenen Radio verhaltener. "Grundsätzlich habe man auf taktischer Ebene mit einem solchen Angriff gerechnet, der Zeitpunkt sei allerdings eine Überraschung gewesen."

Die Eroberung von Kundus war der größte Erfolg der Taliban seit der US-geführten Invasion im Herbst 2001. Der Angriff war lange vorbereitet. Talibankämpfer hatten Tage zuvor, während des muslimischen Opferfests Eid al-Adha, unerkannt Kundus infiltriert. Während des Angriffes um drei Uhr morgens wurden diese Einheiten von hunderten Taliban unterstützt, die aus drei Richtungen die Stadt attackierten. Ein Vorgehen, das zusammen mit dem gleichzeitigen Angriff auf mehrere Ziele, an die Tet-Offensive der Nordvietnamesen erinnert.

Tatsächlich haben die Taliban ihre Taktik verändert. Griffen sie bisher vornehmlich außerhalb von Städten an, um sich anschließend schnell in die Berge zurückziehen zu können, versuchen sie nun die Kämpfe in die Städte zu tragen. Der Aufstand der Taliban hat mittlerweile mehr Regionen Afghanistans erreicht als jemals zuvor, wie die New York Times unter Berufung auf Daten der Vereinten Nationen meldet.

Die radikalen Islamisten eroberten in wenigen Stunden weite Teile der 270.000-Einwohner-Stadt. Dabei konnten sie zahlreiche gepanzerte Fahrzeuge erobern, Waffen erbeuten und aus dem örtlichen Gefängnis die Inhaftierten befreien. Der größte Erfolg ist jedoch die damit verbundene Propaganda: wenige hundert Talibankämpfer hatten in aller Kürze eine von tausenden afghanischen Soldaten bewachte Provinzhauptstadt erobert. Die New York Times berichtete von 500 Taliban gegen 7.000 Sicherheitskräfte und alliierte Truppen. Die Tagesschau gab später an, es handele sich um etwa 2.000 Taliban.

Kundus, gelegen in einem Tal an der Grenze zu Tadschikistan, ist eine symbolträchtige Stadt. Es war die erste Stadt die 1988 von den Mudschahidin eingenommen wurde. Und es war die erste Stadt im Norden die 1990 den Taliban in die Hände fiel. Ausgebaut zu ihrem Hauptsitz war es die letzte Stadt im Norden, die 2001 von den Taliban aufgegeben wurde. Bild: Julian-G. Albert/CC-BY-SA-2.0

Nachdem der Widerstand der afghanischen Armee vorerst gebrochen war und diese sich in das südlich von Kundus gelegene ehemalige Bundeswehrfeldlager zurückgezogen hatte, marschierten die Taliban durch die Straßen und forderten die Anwohner per Megafon auf, zu ihrer eigenen Sicherheit zuhause zu bleiben.

Der Anführer der Taliban Mullah Akhtar Muhammad Mansur gab die Order an seine Kämpfer aus, Zivilisten und besiegte Feinde gut zu behandeln. Ob und wie diesem Befehl nachgekommen wurde, ist ungeklärt. Gleichzeitig wurden jedoch Regierungsgebäude und NGO Büros geplündert. Dennoch bemühten sich die Taliban die "Herzen der Menschen" zu erobern. So sagte Abdul Ahad, ein Arzt des zentralen Krankenhauses, überrascht: "Die Taliban benehmen sich sehr gut, vor allem gegenüber Doktoren. Sie könnten die Herzen gewinnen, wenn sie länger bleiben."

Internationale Spezialeinsatzkräfte im Kampf gegen Taliban

Im Süden von Kundus hielten sich die Taliban bei einem Krankenhaus länger auf. Sie liefen durchs Gebäude, griffen aber niemanden an. "Augenzeugen aus dem Krankenhaus berichteten, die Taliban hätten offenbar verletzte Kämpfer in der Klinik gesucht", vermeldete Spiegel Online.

Kämpfer die in einem Krankenhaus nach jemandem suchen. Ein ungewöhnliches Vorgehen. Doch im Hospital von Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF) war dies auch schon vorgekommen. Bereits im Juli waren afghanische Spezialeinheiten in das Krankenhaus eingedrungen auf der Suche nach einem "al-Qaida"-Terroristen. Die Soldaten riegelten das Gelände ab, schossen in die Luft und griffen Mitarbeiter von MSF an. Im Krankenhaus verhafteten sie dann drei Patienten. "Dieser Zwischenfall schockiert uns", erklärte Bart Janssens, Einsatzleiter bei MSF. "Seit der Eröffnung im Jahr 2011 ist die chirurgische Spezialklinik in Kundus ein Ort, an dem alle Patienten kostenlos und in sicherer Umgebung medizinische und chirurgische Versorgung erhalten. Dieser schwerwiegende Zwischenfall bringt das Leben tausender Menschen in Gefahr, die dringend auf die Nothilfe angewiesen sind, die in der Klinik geleistet wird."

Am 29. September hatte sich die Afghanische Armee vollständig in den Flughafen südlich der Stadt zurückgezogen. Die Taliban starteten eine Offensive und versuchten auch den Flugplatz unter ihre Kontrolle zu bringen.

Übersichtskarte von Kundus. Im Süden liegt der Flughafen mit dem ehemaligen Feldlager der Bundeswehr. Direkt unter dem ersten U aus Kunduz befand sich das Krankenhaus von MSF. Bild: OpenStreetMap contributors/CC-BY-SA-2.0

"Eine Gruppe von Beratern habe sich in der Nacht in der Nähe des Flughafens zur Selbstverteidigung ein Gefecht mit Aufständischen geliefert", vermeldete unter Berufung auf einen NATO-Sprecher. Zur Nationalität der Soldaten machte er jedoch keine Angaben. Afghanische Sicherheitskreise ließen jedoch verlauten, dass "etwa 100 schwerbewaffnete und mit Nachtsichtgeräten ausgerüstete US-Soldaten einen drohenden Durchbruch der Taliban gestoppt" hätten.

Unterstützt wurden die US-Spezialeinsatzkräfte durch Luftangriffe der US Air Force. Ohne diese Unterstützung wäre der Flughafen wohl trotz der zahlenmäßigen Überlegenheit der Afghanischen Armee an die Taliban gefallen. Den afghanischen Soldaten fehle es offenbar an Kampfeswillen, konstatierte der Bürgermeister des Bezirks Chardara, Mohammed Sahir Niasi.

Kundus befindet sich im Verantwortungsbereich des TAAC-N, welches im Rahmen von Resolute Support von der Bundeswehr in Masar-e Sharif geführt wird. Für Resolute Support, die Nachfolgemission von ISAF, stellt die Bundeswehr unter anderem folgende Fähigkeiten zur Verfügung:

  • Ausbildung, Beratung und Unterstützung der afghanischen nationalen Sicherheitskräfte
  • Sicherung, Schutz und ggf. Evakuierung und Bergung militärischer und ziviler Kräfte

Sicherung, Schutz und ggf. Evakuierung und Bergung militärischer und ziviler Kräfte und Mittel der Resolute Support Mission sowie designierter ziviler Kräfte ("in extremis support") sind nicht regional beschränkt und können im gesamten Operationsgebiet stattfinden. Hierfür können auch Spezialkräfte, in der Regel unter Einbindung der afghanischen Sicherheitskräfte, eingesetzt werden.

Deutscher Bundestag Drucksache 18/3246

Eine Auftragsbeschreibung, die auf den Angriff der Taliban zutreffen dürfte.

Die Bundeswehr unterrichtet derweil nicht, aus welchen Einheiten sich die 850 Soldaten für Resolute Support zusammensetzen. Klar ist nur, dass es sich auch um Kampfeinheiten (Quick Reaction Force) und Nachrichtendienstler handelt.

Ein kleines Team des TAAC-N ist dementsprechend auch am 29. September nach Kundus geflogen, um "zu verstehen, wie die afghanische Armee gedenkt, die Hoheit über die Stadt zurückzugewinnen", sagte ein Sprecher des Verteidigungsministeriums. Und während das Bundeswehrkommando noch Informationen eingeholt hat, hat die US-Armee aus "Schutzgründen" Kundus bombardiert. Bereits einen Tag nach dem Überraschungserfolg der Taliban hatte die Afghanische Armee gemeinsam mit US Special Forces und Luftunterstützung das Hauptquartier der Polizei sowie das Gefängnis zurückerobert.

Am 30. September trafen weitere NATO-Spezialeinsatzkräfte in Kundus ein. Bei diesen Eliteeinheiten soll es sich um "Soldaten aus Deutschland, Großbritannien und den USA handeln", berichtete die Tagesschau. Das Ziel der Taliban, künftig den Orts- und Häuserkampf zu forcieren, schien gelungen. Derweil erklärte MSF "ihre Klinik in Kundus sei völlig überlastet, so viele Verletzte würden eingeliefert - vor allem Zivilisten, darunter viele Kinder".

Ab dem 1. Oktober vermeldete der Sprecher des afghanischen Innenministeriums, Sedik Sedikki, dass Kundus durch Spezialeinheiten zurückerobert wurde, was die Taliban umgehend dementierten. Sedikki ließ jedoch verlauten, dass man nun übergehe, die Stadt von "Terroristen zu reinigen". In Anbetracht der nachfolgenden Ereignisse, eine folgenschwere Drohung.

Unterdessen war ein Trupp der Bundeswehr aus Masar-e Scharif erneut nach Kundus geflogen, um die afghanische Armee im Kampf gegen die Taliban zu beraten. In die Kampfhandlungen selbst würden sie aber nicht eingreifen, versicherte ein Sprecher des Einsatzführungskommandos dem Tagesspiegel. "Spekulationen darüber, dass sich auch Soldaten des Kommandos Spezialkräfte (KSK) in Kundus aufhalten, wollte das Einsatzführungskommando der Bundeswehr nicht kommentieren. Einsätze der KSK unterliegen generell der Geheimhaltung."

Dabei spielt es auch gar keine Rolle, ob es sich um KSK-Soldaten handelt oder um andere der mittlerweile zahlreichen Spezialkräfte der Bundeswehr. Denn die Bundeswehr folgt dem Vorbild der US-Armee und setzt vornehmlich auf kleine, besonders gut ausgerüstete und ausgebildete Spezialeinheiten. Orts- und Häuserkampf können die alle.

Am 2. Oktober ist man sich endlich sicher. Kundus ist zurückerobert. Und während sich das Einsatzführungskommando in Potsdam täglich darum bemüht zu versichern, dass die Bundeswehr ausschließlich beratend vor Ort ist, führen die US Special Forces auch weiterhin Gefechte in der Stadt, die dem Verantwortungsbereich des TAAC-N und damit der Bundeswehr unterliegt. "Einzelne Taliban-Kommandos haben sich in der Provinzhauptstadt in Nordafghanistan in Wohnhäusern verschanzt. Im Zentrum tobt den ganzen Donnerstag lang ein Häuserkampf, auch in den Außenbezirken kommt es zu heftigen Gefechten", berichtet die tagesschau.