Freude, schöner Götterfunken?

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Euro-Europa hat die Vision der Schönheit verraten und wird vielleicht erst zu spät begreifen, dass die kapitalistische Ideologie samt Militärreligion in eine Götterdämmerung mündet

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Das musikalische Hauptthema des letzten Satzes aus Ludwig van Beethovens "9. Sinfonie in d-Moll", der auch als "Ode an die Freude" bezeichnet wird, ist offizielle Hymne der Europäischen Gemeinschaft. Die Dichtung, die dem Satz als Inspiration zugrunde liegt, lässt sich im Nachhinein von der seit 1972 bzw. 1985 "Europa-amtlich approbierten" Musik wohl nicht mehr abtrennen.

Dem Chorgesang geht eine Ansage voraus, die wir spätestens seit Ende des zweiten Weltkrieges nur im Bewusstsein der Abgründe der Geschichte Europas hören können: "O Freunde, nicht diese Töne! / Sondern lasst uns angenehmere / anstimmen und freudenvollere." Friedrich Schillers Vision aus einer weinseligen, euphorischen Freundesrunde vermag in öffentlichen Lebensräumen die Menschen heiter zu stimmen. Beethovens Musik hat es möglich gemacht.

Wie viel Kakophonie verträgt Europa?

Doch lassen sich die Todesklänge der europäischen Geschichte so einfach überspringen? Die Kakophonien der Gegenwart werden Tag für Tag lauter. Sie gehen jedem Liebhaber der "europäischen Idee" als Schrecken durch Mark und Bein. Politiker, denen man keinen leichtfertigen Alarmismus zutraut, melden sich deutlich zu Wort.

Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn konstatierte in einem Tagesschau-Interview am 26. Oktober, im Zuge der Debatte über die hilfesuchenden Flüchtlinge würde die Fundamentalkritik der Rechten an Europa Eingang in etablierte Parteien finden. Wer jedoch Werte wie Solidarität und Menschlichkeit über Bord werfe, gehe ans Eingemachte und reduziere in extremer Weise die "Lebenserwartung der europäischen Union".

Noch drastischer fiel drei Tage später eine Expertise des langjährigen Europa-Politikers Prof. Günter Verheugen (SPD) aus:

Ich bin sehr besorgt - mehr als ich es jemals war. Ich hätte bis vor kurzem an die Möglichkeit eines Scheiterns der europäischen Integration nicht geglaubt. Ich hätte das für unmöglich gehalten. Ich halte es heute nicht mehr für unmöglich, dass sich die EU tatsächlich auflöst. Ich habe seit der Schuldenkrise, genauer gesagt wegen unseres Umgangs mit ihr, das Gefühl, dass ein Verfall begonnen hat. Ich kann nur eindringlich an alle, die politische Führungsämter innehaben, appellieren, sich dem mit aller Kraft entgegenzustemmen.

Ist nun über Nacht eine Naturkatastrophe über jenes Europa hereingebrochen, welches man doch so wunderbar auf einem hehren Bekenntnis zu universellen Werten aufgebaut hat? Günter Verheugen lässt den Anfang vom möglichen Ende beginnen im Jahr 2005, "als das Projekt einer europäischen Verfassung durch Volksentscheide in Frankreich und in den Niederlanden gescheitert ist". Eine so kurzsichtige Fährtensuche verdient Widerspruch.

Der besagte "EU-Verfassungsentwurf" enthielt anstelle eines Rahmens für solidarisches Wirtschaften die Festschreibung der neoliberalistischen Ideologie und ersetzte Perspektiven für eine globale Friedensordnung durch militärischesDenken sowie die Pflicht der Mitgliedsländer zu weiterer Aufrüstung. (An eine Rüstungsagentur hatte man gedacht, an eine institutionelle und materielle Absicherung von Friedenspolitik im Großmaßstab nicht.)

Besser hätte man nicht offenbaren können, dass im Zentrum das Programm "Mammon - Macht - Militär" stand und den sogenannten "Werten" bestenfalls die Rolle einer wohlklingenden Begleitmusik zugedacht war. Es ist aberwitzig, auf solcher Grundlage so etwas wie ein solidarisches Europa zu erwarten.

Viel früher als 2005 müssen wir ansetzen, um den Anfang vom möglichen Ende zu verstehen. Nach dem zweiten Weltkrieg gab es in Deutschland und anderen europäischen Ländern einen breiten antikapitalistischen Konsens - bis in die soeben gegründete CDU hinein. Die Sakralisierung der transatlantischen Doktrin sorgte alsbald dafür, dass entsprechende Neigungen ausgemerzt wurden - bisweilen mit wenig zimperlichen Methoden.

Bis heute will uns mancher weismachen, die Kritiker der Adenauer-Politik eines auf ewig transatlantisch angedockten Europas wären in den 1950er Jahren allesamt Stalin-Freunde, "Krypto-Kommunisten" oder Anhänger eines "rechten Antiamerikanismus" gewesen. Es ist deshalb lohnend, sich die Voten jener bürgerlichen Kritiker anzuschauen, zu deren Sprechern damals z.B. der spätere Bundespräsident Gustav Heinemann gehörte und die sich - es sei präventiv klargestellt - jeder Querfront mit Rechtsradikalen verschlossen.

In diesen Kreisen war man durchaus dankbar für antimilitaristische und demokratische "US-Reeducation", aber man schaute auch in den Abgrund der US-amerikanischen Atombombentheologie als Angriff auf die Würde aller Menschen und weigerte sich, die massenmörderischen US-Bombardements über Nordkorea (später Vietnam und viele andere Länder) stillschweigend zu übergehen.

Im Ernstfall, so fürchtete man zu Recht, würde der von inhaltsleeren Freiheitsparolen und massiver Aufrüstung flankierte US-Ökonomismus auf "Menschenwürde" genauso wenig geben wie die Stalinisten. Deshalb hielten die bürgerlichen Gegner der Remilitarisierung, vornehmlich aus der Tradition der Bekennenden Kirche und z.T. aus dem Linkskatholizismus kommend, an jenem Antikapitalismus fest, wie er 1947 auch noch im Ahlener Programm der CDU Eingang gefunden hatte.

Der Lügenpredigt von einem "christlichen Abendland", nach 1945 trotz der vielen Jahrhunderte einer europäischen "Barbarei" von konservativen Ideologen hinausposaunt, erteilte man nachdrückliche Abfuhren.

Im Rückblick kann man kaum bestreiten, dass die zeitweilig besonders in der Gesamtdeutschen Volkspartei organisierten "Nonkonformisten" der 1950er Jahre - darunter Gustav Heinemann (ehem. CDU), Helene Wessel (ehem. Zentrum), Hans Bodensteiner (ehem. CSU), Diether Posser und Johannes Rau - auf lange Sicht hin doch richtig lagen mit ihrer Einschätzung der US-amerikanischen Schattenseite und ihrer Kritik an einem auf Sand gebauten Europa:

  1. Auf das Konto der Militärsäule des US-Systems gehen inzwischen Millionen Mordopfer, und der Hegemon hat im 21. Jahrhundert mit einer geradezu wild gewordenen Kriegspolitik jene Gewaltherde produziert, zu deren Folgeerscheinungen auch die gegenwärtige Destabilisierung Europas zählt. (Der Protest dagegen wird nicht falsch, nur weil auch Rechtsextremisten eine ähnliche Kritik aus durchsichtigen, ganz unehrenwerten Gründen vortragen. Eine Kritik an Verbrechen von US-Regierungen und jeder anderen Militärmacht des Globus auf der Wertebasis des "US-Nationalheiligen" Martin Luther King und der seinem Programm verpflichteten Demokratiebewegungen braucht sich nicht zu ducken, wo sie weiterhin als "rechter Antiamerikanismus" diffamiert wird.)
  2. Dass die atomare Abschreckung Europa einen sicheren Frieden geschenkt haben soll, wird heute nur noch vortragen, wer die Erkenntnisse über die - anhaltende - Fragilität der "Sicherungssysteme" dreist ignoriert und überdies in historischen Zeitdimensionen keine zwei Meter weiter denken kann. Die Atombomben in Deutschland (Atombombe oder Demokratie?) bleiben. Daran kann das von uns gewählte Parlament ganz offensichtlich nichts ändern.
  3. Von der im Grundgesetz verankerten Vision eines deutschen Friedensdienstes an der Welt ist in Rüstungsexportpraxis und Militärdoktrin schon lange nichts mehr übriggeblieben. Man darf leider nicht damit rechnen, dass sich etwa mit einem "Weißbuch 2016" hieran irgendetwas ändert.
  4. Ende 2001 hat Gerhard Schröder der zum Kreuzzug formierten US-Administration eine bedingungslose Solidarität erklärt. Google sorgt dafür, dass alle, die sich nach fast 15 Jahren (!) fragen "was macht die Bundeswehr in Afghanistan?", freundlicherweise direkt auf die Website des deutschen Militärs weitergeleitet werden. Andere europäische Länder haben sogar 2003 den US-Angriffskrieg gegen den Irak unterstützt, wollen aber heute von den Europa betreffenden Folgen nichts wissen.
  5. Die europäischen Mitglieder der NATO sind eingebunden in ein militärisches Bündnis zur Sicherung von Wirtschafts- und Machtinteressen, das sich mitnichten verdient macht um "kollektive Sicherheit" im Sinne der UN-Charta. (Das Gegenteil ist der Fall. 1999 hat die NATO auf europäischem Boden eine neue Qualität von Völkerrechtsverachtung vorexerziert und ganz nebenbei auch die damals bedeutsamste pazifistische Kraft im Bundestag gleichgeschaltet.)
  6. Europa hat nach Ende des Kalten Krieges erstaunlicherweise keine eigenständige, nachhaltige Initiative für eine neue Weltfriedensordnung ergriffen. Europa hätte zu Beginn der ersten Amtszeit von US-Präsident Barack Obama noch einmal einen grundlegenden Paradigmenwechsel, d.h. eine Abkehr von der Militärreligion, einklagen können. Auch dies ist nicht erfolgt. Systematische Folter- und Drohnenmord-Programme der USA sind mit der sogenannten "Wertegemeinschaft" offenkundig kompatibel.
  7. Auch die Heilsversprechen eines "gezähmten Kapitalismus" und eines solidarischen Europas sind als Truggebilde erwiesen. Hierzu sind vor allem Griechen und die abgeschriebene Jugend Europas zu befragen.
  8. Um die Demokratie in Europa ist es inzwischen so schlecht bestellt, dass z.B. die Forderung unseres altmodischen Parlamentspräsidenten Norbert Lammers nach einem Recht der gewählten Volksvertreter auf Einsichtnahme in die TTIP-Vertragstexte schon als etwas ganz Besonderes hervorgehoben werden muss ...