Neoliberale missbrauchen die gegenwärtige Zuwanderung"

Christoph Butterwegge über die Armutsentwicklung und den Aufstieg von Pegida in Deutschland

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Während der Reichtum in Deutschland wächst und die Armut zunimmt, wird in der Öffentlichkeit das Thema ignoriert, während die Politik Wohlhabende honoriert und Arme diskriminiert. Die Flüchtlingsdebatte wird diese Entwicklung noch weiter schüren, sofern keine Umstellung an den Parameter gesellschaftlicher Verteilung vorgenommen wird. Ein Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge, der in dem Sammelband "Kampf um die Armut - Von echten Nöten und neoliberalen Mythen" einen Beitrag zum Armutsbegriff verfasst und in dem Buch "Reichtumsförderung statt Armutsbekämpfung" die sozial- und steuerpolitischen Taten der Großen Koalition bilanziert hat.

Herr Butterwegge, Sie schreiben in Ihrem Aufsatz "Armut - sozialpolitischer Kampfbegriff oder ideologisches Minenfeld?", dass die Art und Weise, wie eine Gesellschaft mit den Armen umgehe, ein Prüfstein dafür sei, "ob sie als human, sozial und demokratisch gelten" könne: Wie human, sozial und demokratisch ist die Bundesrepublik?

Christoph Butterwegge: Sie ist heute weniger denn je seit ihrer Gründung 1949 human, sozial und demokratisch, weil Erwerbslose und Arme seit den "Agenda"-Reformen und den sogenannten Hartz-Gesetzen kurz nach der Jahrtausendwende noch stärker als früher zu Faulenzern, Drückebergern und Sozialschmarotzern erklärt und stigmatisiert werden. Dass sich die Betroffenen meist resigniert ins Privatleben zurückziehen und kaum noch Einfluss auf politische Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse nehmen, ist eine Folge ihrer sozialen Ausgrenzung und eine Gefahr für die Demokratie.

Während die Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen in gutbürgerlichen Wohnvierteln nach wie vor bei fast 90 Prozent liegt, gehen Langzeiterwerbslose, Geringverdiener und Transferleistungsbezieher kaum noch wählen. In manchen Großstädten der Bundesrepublik beträgt die Differenz zwischen der Wahlbeteiligung in Nobelvierteln und der Wahlbeteiligung in abgehängten Quartieren, wo die sozial Benachteiligten wohnen, mittlerweile über 40 Prozentpunkte. Damit werden das Ideal der politischen Gleichheit und das System der repräsentativen Demokratie ad absurdum geführt.

Spätestens seit den Hartz-Reformen ist Armut in Deutschland deutlich sichtbar. Warum wird dieser Zustand in Politik und Öffentlichkeit ignoriert, verdrängt und verharmlost?

Christoph Butterwegge: Dafür sind zweifellos mehrere Gründe verantwortlich. So veranlasst beispielsweise die Angst, spätestens im Alter selbst zu verarmen, viele Menschen, das Problem zu verdrängen, so wie andere kein Testament machen, um auf diese Weise dem Gedanken an Siechtum und Tod aus dem Weg zu gehen. Außerdem ist unser Armutsbild durch die Massenmedien von der Not und dem Elend in Afrika geprägt, was die Bewohner eines reichen Landes wie der Bundesrepublik daran hindert, analoge Erscheinungen "vor der eigenen Haustür" rechtzeitig zu erkennen. Denn die Armut manifestiert sich hier weniger spektakulär als dort.

Ein dritter Grund, warum Armut leicht "übersehen" wird, liegt in den von Reichen, die über viel Geld, Macht und (medialen) Einfluss verfügen, aus naheliegenden Motiven unterstützten oder gar lancierten bzw. finanzierten Bemühungen begründet, den Betroffenen die Schuld für ihre soziale Misere selbst in die Schuhe zu schieben. Angeblich liegen sie faul in der Hängematte des Sozialstaates, können "nicht mit Geld umgehen" oder "saufen" den ganzen Tag. Entscheidend ist die Wirksamkeit des meritorischen Dogmas, wonach Reiche ihr Vermögen durch eigene Leistung "verdient" haben, während Arme durch mangelnden Wohlstand dafür "bestraft" werden, dass sie leistungsunfähig oder sogar leistungsunwillig sind.

Schließlich erwartet in einer neoliberal geprägten Hochleistungs- und Konkurrenzgesellschaft, die der Ideologie frönt, jeder könne vom Kleinaktionär zum Multimillionär werden, dass sich die Armen gewissermaßen nach der Münchhausen-Methode "am eigenen Schopf" aus ihrer misslichen Lage befreien.

"Gefahr einer ethnischen Unterschichtung unserer Gesellschaft"

Welche Auswirkungen wird die Einwanderung auf die Armutsentwicklung in Deutschland haben?

Christoph Butterwegge: Wenn nicht alles täuscht, wird sich die Kluft zwischen Arm und Reich vertiefen. Bei unveränderten Macht- und Mehrheitsverhältnissen besteht die Gefahr einer länger andauernden ethnischen Unterschichtung unserer Gesellschaft, wenn Geflüchtete nicht auf einen sie inkludierenden Sozialstaat treffen, sondern die Dominanz rassistischer Ressentiments innerhalb der Mehrheitsgesellschaft dazu führt, dass sie arm bleiben und sozialer Ausgrenzung unterliegen, sei es in der Arbeitswelt, in den zwischenmenschlichen Beziehungen oder im Bereich der politischen und kulturellen Teilhabe.

Wie die Forderungen nach Aussetzung des seit Jahresbeginn geltenden Mindestlohns und nach völliger Aufhebung des Verbots der Leiharbeit für Asylbewerber sowie Geduldete - kürzlich bereits für Fachkräfte nach drei Monaten außer Kraft gesetzt - deutlich zeigen, missbrauchen Neoliberale und Wirtschaftslobbyisten die gegenwärtige Zuwanderung, um in der Bevölkerung mehr Akzeptanz für eine Rückkehr zum unbeschränkten Lohndumping zu schaffen. Leistungskürzungen für Geflüchtete können als Experimentierfeld für eine generelle Absenkung des Lebensstandards der arbeitenden Bevölkerung in Deutschland dienen.

"Die bestehende Verteilungsschieflage müsste skandalisiert werden"

Sie können sich also vorstellen, dass die Flüchtlingskrise dazu benutzt wird, den Sozialstaat vollends zu demontieren?

Christoph Butterwegge: Ich sehe diese Gefahr zumindest dann, wenn es den Neoliberalen und Nationalkonservativen gelingt, die Armen nach dem Motto "Wir müssen jetzt für die Flüchtlinge sorgen, und ihr müsst dafür bluten!" gegen die noch Ärmeren auszuspielen. Wird in Medien und politischer Öffentlichkeit auch durch die penetrante und monothematische Behandlung der "Flüchtlingskrise" fortwährend Sozialneid nach unten geschürt, nehmen die rechte Gewalt und die Risiken für den Wohlfahrtsstaat zu. Umgekehrt müsste im Zeichen einer Zuwanderungsdebatte, die sich primär um die - angebliche oder wirkliche - Mehrbelastung des Staatshaushalts durch "massenhafte Flüchtlingsströme" dreht, die hierzulande bestehende Verteilungsschieflage skandalisiert werden.

Ein besseres Argument für die Notwendigkeit der Verwirklichung größerer Steuergerechtigkeit als den Hinweis, dass Gering- und Normalverdiener keinesfalls für mittellose Flüchtlinge zahlen dürfen, Wohlhabende und Reiche aber viel stärker in die Pflicht für das sonst noch mehr auseinanderdriftende Gemeinwesen genommen werden müssen, gibt es nicht.

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