"Um Haaresbreite"

USA geben Geheimbericht von 1990 zu Able Archer 83 frei

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Nachdem Präsident Ronald Reagan Anfang der 1980er Jahre das Klima zwischen den Supermächten vom Tauwetter wieder zur Eiszeit gewandelt hatte, befürchteten die Strategen in Moskau einen nuklearen Überraschungsangriff. Lange war umstritten, wie real die sowjetische Kriegsangst von 1983 und damit das Risiko eines versehentlich eingeleiteten Gegen- oder gar Präventivschlags tatsächlich gewesen war. Eine nun freigegebene Studie für die außenpolitischen Berater der Regierung Bush von 1990, der alle geheimen US-Quellen zur Verfügung standen, kommentierte: "on a hair trigger".

Dieser Tage jährt sich zum 32. Mal das Ende diverser NATO-Übungen vom Herbst 1983, die in Moskau als Tarnung zur Vorbereitung eines Überraschungsschlags der USA gedeutet wurden (vgl. Der letzte Tag). Den Historikern des National Security Archive der George Washington University gelang es nach zwölf Jahren Kampf, die Freigabe des ultrageheimen Berichts für das President's Foreign Intelligence Advisory Board (PFIAB) aus dem Jahr 1990 zu erwirken. Damit liegt die bislang vollständigste Regierungsanalyse zu dem Drama vor, das selbst konservative US-Insider für gefährlicher als die Kubakrise halten. Dem PFIAB-Bericht ist ein Zitat des damaligen Politbüro-Mitglieds Michail Gorbatschow vorangestellt:

Wahrscheinlich niemals in den Nachkriegsjahrzehnten war die Weltlage explosiver und daher schwieriger und ungünstiger als in der ersten Hälfte der 1980er Jahre.

In der Regierung Reagan konnte sich laut dem PFIAB-Bericht niemand vorstellen, dass die Sowjets in Friedenszeiten mit einem Überraschungsschlag rechneten. Offenbar hatte man in Washington verdrängt, dass seit 1945 ultrarechte Generäle wie Curtis LeMay offen einen solchen Präventivschlag gefordert hatten. Wie Robert Kennedy durchsickern ließ, hatte der Generalstab des Militärs dies noch Anfang der 1960er Jahre der Regierung Kennedy konkret einen Atomkrieg angetragen.

Die eigenen Signale wie Reagans aggressive Rhetorik, das SDI-Programm und die überraschende Besetzung der Gewürzinsel Grenada im Oktober 1983, die u.a. 25 dort befindliche Kubaner das Leben kostete, hatte man in Washington und Langley falsch eingeschätzt. Im Kreml wurde Reagans aggressives Gerede vom Reich des Bösen, mit dem es keine Koexistenz geben könne, jedoch für bare Münze genommen. In Moskau war man bereit, einen erwarteten Vernichtungsschlag nicht nur zu kontern, sondern bei hinreichender Angriffswahrscheinlichkeit einem solchen ggf. durch einen eigenen Erstschlag zuvor zu kommen.

Able Archer 83

Der PFIAB-Bericht erwähnt Details, warum die Sowjets die westlichen Manöver als ernsthafte Angriffsvorbereitungen in Betracht zogen. In der bislang größten Übung Able Archer 83 wurden bei Funkstille 19.000 US-Soldaten nach Europa eingeflogen. Die Starts von B52-Bombern bezeichnete man im Funk dramatisierend als "Strikes" (Angriffe). Das Herbstmanöver war so realistisch, dass man an Bomber etwa Attrappen von Kernwaffen montierte. Mit echten Atombomben hingegen wurden zeitgleich die sowjetischen Bomber in Ostdeutschland und Polen bestückt, was dort zum ersten und einzigen Mal im Kalten Krieg geschah. (Die US Air Force hatte demgegenüber bis 1968 strategisch bewaffnete Bomber konstant in der Luft gehalten.)

Zu den Ursachen der Kriegsangst zählt der PFIAB-Bericht auch die fehlerhafte Einschätzung des Kremls, die neue Mittelstreckenrakete Pershing II habe tatsächlich eine Reichweite von 2.500 km und könne daher von Westdeutschland aus Moskau und andere besonders relevante Ziele erreichen. Tatsächlich betrug der Radius der Waffe nur 1.800 km. Bislang hatten die ballistischen Langstreckenraketen östlichen Beobachtern Stanislaw Petrow (Stanislaw Petrow und das Geheimnis des roten Knopfs) eine halbe Stunde Zeit gelassen, um einen Fehlalarm als solchen zu erkennen (Stanislaw Petrow - der Mann, der den Atomkrieg verhinderte). Die Pershing II jedoch reduzierte die Vorwarnzeit auf fünf bis acht Minuten.

Vor 1980 hatte die Mobilmachung für einen Gegenschlag noch etwa vier Stunden in Anspruch genommen. Dieser Vorlauf war nötig, um auf den Fliegerhorsten die Bomber und auf den strategischen U-Booten die ballistischen Raketen startklar zu machen. In einem Zeitraum zwischen 1982 und 1985 gelang es, die Startvorbereitungen für die U-Boot-gestützten Raketen auf 20 Minuten zu verkürzen. Die Politik wollte nach zwei bis drei Minuten den Gegenschlag ausführen, was möglichst frühe Informationen für einen Spannungsfall erforderte. Ab 1980 etwa rüstete die Rote Armee daher an der Westgrenze die Bodenstreitkräfte mit atomarer Artillerie aus.

VRYAN - das KGB-Computerprogramm zum Dritten Weltkrieg

Die Sorge vor einem Überraschungskrieg und der dann geringen Vorlaufzeit für einen Gegenschlag trieb das KGB 1981 zur Initiative raketno yadernoe napadenie - RyAN (Nuklearraketenangriff), die bis dahin größte Geheimdienst-Operation des Ostens überhaupt. Agenten hatten jedes Indiz für Kriegsvorbereitungen sofort zu melden. Wie nunmehr bekannt wurde, sammelte das KGB diese Informationen in einem Computerprogramm vnezapnoe raketno yadernoe napadenie - VRYAN (überraschender Nuklearraketenangriff).

Staatschef Juri Andropow hatte den Aufbau einer Spezialabteilung hierzu im KGB angeordnet. Bereits seit den 1970er Jahren bediente sich das KGB solcher Computermodelle zur Beurteilung der Gesamtlage. Die Sowjets investierten in VRYAN große Energie, die Anlage repräsentierte den Stand der sowjetischen Wissenschaft und Technik. Das Programm griff auf eine Datenbank von 40.000 Elementen wie politische, militärische und wirtschaftliche Faktoren zurück, die man im Zweiten Weltkrieg als für Entscheidungsträger wesentlich betrachtet hatte. Mit der Aktualisierung von VRYAN waren 200 Personen befasst, darunter angesehene Wirtschafts- und Militärexperten aus der Regierung.

Auch die eigenen Daten über wirtschaftliches und militärisches Vermögen wurden in das System eingespeist. Aus einem teilgeschwärzten Satz im PFIAB-Bericht folgt, dass für den Fall des Unterschreitens von 40% das Land als nicht verteidigbar bewertet und ein nuklearer Präventivschlag empfohlen wurde. Im Abgleich zur Stärke der USA betrug der Wert 1984 nur 45%. Nach Einschätzung des PFIAB-Berichts hätten die Entscheidungsträger, die überwiegend als Ingenieure ausgebildet waren, derartigen Berechnungen einen hohen Stellenwert beigemessen.

Ronald Reagan und Oleg Gordijewski (1987). Bild: Mary Anne Fackelman, US Government

Eine automatisierte Auswertung barg allerdings die Gefahr von Falschinformationen und Programmversagen. So bauten die USA damals an einem Tarnkappen-Bomber, was die Gefahr einer Fehlinterpretation von Radarsignaturen zu steigern schien. Die USA hörten vom VRYAN-Programm erstmals 1984 durch den von den Briten geführten Doppelagenten Oleg Gordijewski, dem man zunächst jedoch wenig Glauben schenkte.

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