Ein Land mit Stockholm-Syndrom

Nach der Wahl forciert die AKP ein Präsidialsystem in der Türkei

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Die Parlamentswahlen in der Türkei sind gelaufen, anders als noch im Juni konnte die regierende AKP die absolute Mehrheit zurückerobern - und setzt nun den radikalen Kurs unvermindert fort. Die türkische Luftwaffe bombardiert die PKK, kritische Presse und Künstler sind staatlicher Repression ausgesetzt, im ganzen Land finden Razzien und Säuberungsaktionen statt. Obwohl die AKP nicht genug Sitze im Parlament hat, um die Verfassung zu ändern, bringt sie das Anliegen als ihr wichtigstes Thema schon am ersten Tag nach der Wahl auf die Tagesordnung. Die Bevölkerung ist gespalten. Während die Erdogan-Anhänger dem Sieges- und Freudentaumel verfallen, macht sich unter Anhängern der Opposition Resignation und Verzweiflung breit. Die Zukunft der Türkei ist unsicher, der eingeschlagene Weg so bald nun nicht mehr zu korrigieren.

Emre ist Mitte zwanzig und arbeitet für eine Werbeagentur in Istanbul. Seinen richtigen Namen will er nicht genannt sehen, auch nicht in einem ausländischen Medium. Nicht, solange er in einem Land lebt, in dem Kinder verhaftet werden, weil sie Plakate mit dem Konterfei des Staatspräsidenten abreißen. Ein Land, in dem Journalisten, die das aus staatlicher Sicht Falsche schreiben, gefeuert oder auf offener Straße verprügelt werden, wie es vor der Wahl dem populären Hürriyet-Kolumnisten Ahmet Hakan passierte. "Das sind Verbrecher, die ihre Anhänger zu Gewalt anstacheln", sagt Emre mit leiser Stimme. "Und uns nennen sie Terroristen, wenn wir offen unsere Meinung sagen." Emre denkt drüber nach, das Land zu verlassen, wenn sich die Situation weiter zuspitzt.

Bügün-Redakteur Cinar Kiper ist mutiger: Seine Zeitung und einige weitere wurden unmittelbar vor der Wahl gestürmt und unter staatliche Aufsicht gestellt, der Großteil der Belegschaft gefeuert. Im Gespräch mit Zenith berichtet er von der beklemmenden Lage, in der nun Polizisten jedes Wort in den Redaktionsräumen überwachen. Die Befürchtung, dass es den wenigen noch freien Medien in absehbarer Zeit ähnlich ergehen wird, ist naheliegend.

Am Tag nach der Wahl wurde die aktuelle Ausgabe des Magazins "Nokta" beschlagnahmt und die Chefredakteure Cevheri Güven und Murat Capan verhaftet. Sie hatten in der Titelstory vor einem Bürgerkrieg gewarnt. Dieser ist in Teilen der kurdischen Regionen nahe der türkisch-syrischen Grenze längst im Gange.

An türkischen Zeitungskiosken bietet sich schon länger ein mitunter gruseliges Bild, wenn dutzende Tageszeitungen mit gleichlautenden Jubel-Headlines zu AKP und Erdogan erscheinen. Dass manche englischsprachige Onlineausgabe kritischer ist, liegt auch daran, dass vergleichsweise wenige Türken Englisch sprechen - zumindest unter den AKP-Anhängern -, und diese Publikationen eher von der jungen, gebildeten Mittelschicht gelesen werden, die in aller Regel ohnehin der AKP gegenüber negativ eingestellt ist. In den Print- und TV-Massenmedien regiert Erdogan. Seine Gegner kommen kaum zu Wort und wenn, dann werden sie diffamiert. Wie zuletzt diese Woche im obrigkeitstreuen Hetzblatt Sabah, in dem Künstler, Musiker und Schauspieler mit ihren kritischen Tweets abgebildet und als Staatsfeinde dargestellt wurden.

Die Rechnung der AKP war an sich simpel: Chaos verbreiten und sich selbst als Stabilitätsfaktor verkaufen im Wahlkampf

"Die Lage, in der die Türkei ist, ist die des Patienten wenn der Arzt sagt: Sie dürfen jetzt essen, was sie wollen", sagt der Istanbuler Schriftsteller Alper Canigüz. Er hat sich den Galgenhumor bewahrt, aber man merkt ihm an, dass er sich Sorgen macht. Seine Romane, die auch in Deutschland erscheinen, sind eher unpolitisch. Wenn man ihn auf die Wahlen und die Zukunft des Landes anspricht, legt sich seine Stirn in tiefe Falten. "Die Rechnung ist aufgegangen. Die Leute haben inzwischen einfach Angst um ihr Leben."

Die Rechnung der AKP war an sich simpel: Chaos verbreiten und sich selbst als Stabilitätsfaktor verkaufen im Wahlkampf. Die meisten in der Türkei, einschließlich vieler AKP-Wähler, wissen, wem sie das Chaos und die Gewalt der letzten Monate zu verdanken haben. Der völlig anlasslose Krieg gegen die PKK, die im Gegenzug fast täglich Attentate auf Polizisten und Soldaten verübt, ist keineswegs populär, aber er reibt die gesellschaftliche Spaltung voran. Auch der IS-Terror kam mit Ansage. Zu lange hatte die AKP die Islamisten auf türkischem Boden unbehelligt walten lassen - und auch jetzt werden sie allenfalls lieblos bekämpft.

Wenn Ministerpräsident Davutoglu nach dem verheerenden Anschlag auf eine Friedensdemo in Ankara mit rund einhundert Toten sagt, er hätte eine Liste mit potentiellen Selbstmordattentätern, könne aber nicht aktiv werden, solange diese keine Verbrechen begehen, dann muss man sich zur Einordnung wieder den Fall der beiden Kinder ins Gedächtnis rufen, die für das Abreißen von Plakaten verhaftet wurden.

Und trotz allem erhält die AKP knapp 50% der Wählerstimmen. Die Türkei wirkt wie ein Land mit kollektivem Stockholm-Syndrom. Wenn man seinen Peiniger nicht loswerden kann, macht man eben gemeinsame Sache mit ihm. Hürriyet-Kolumnist Özgür Korkmaz verglich die Türkei mit Dr. Seltsam: "Wie ich lernte, mir keine Sorgen zu machen und die AKP zu lieben", schreibt er, wohlweißlich auf Englisch.

Der weitere Weg ist vorgezeichnet: Erdogan will die Verfassung ändern und ein Präsidialsystem etablieren, bei dem alle Macht in seinen Händen liegt. Für diesen Schritt würde die AKP 367 Sitze im Parlament benötigen. Sie hat aber nur 317. Deshalb hat ein AKP-Sprecher schon am Tag nach der Wahl klargestellt: Die Verfassungsänderung ist das wichtigste Projekt der Regierung in kommender Zeit, und die Opposition müsse nun mithelfen, den Plan umzusetzen.

Ob das funktionieren wird ist fraglich. HDP und MHP haben bereits jegliche Unterstützung ausgeschlossen. Die kemalistisch-sozialdemokratische CHP, die zweitgrößte Partei im Parlament, hatte sich mehrmals offen gezeigt für ein Präsidialsystem - aber nicht nach dem Muster, das Erdogan vorschwebt, denn das würde die Demokratie noch weiter schwächen. Oder um genau zu sein: Es würde sie de facto beenden.

Die AKP hat nun das Gedankenspiel in die Runde geworfen, das Volk abstimmen zu lassen und in einem landesweiten Referendum ein Präsidialsystem einzuführen. Die Türken würden damit aktiv die letzten Fäden der Mitbestimmung aus der Hand geben. Und die Chancen, dass es soweit kommt, stehen nicht gerade schlecht. Erst recht wenn die kritischen Stimmen bis zum Referendum noch weiter reduziert werden.

Die Frage ist, ob das am Ende nötig sein wird, denn im Grunde ist es schon jetzt nur noch eine Formalität. Die aktuelle Verfassung untersagt das zwar, aber die wichtigen Entscheidungen im Land trifft schon heute nicht Ministerpräsident Davutoglu, sondern Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. Dass er zuletzt wieder die Nähe zu Wladimir Putin suchte ist in diesem Kontext kein Wunder. Vor zwei Jahren sah es so aus, als könnte die Türkei einen neuen demokratisch-zivilgesellschaftlichen Aufbruch wagen und Erdogans neoosmanischen Träumen einen Strich durch die Rechnung machen. Heute steht zu befürchten, dass am Rande Europas eine neue Diktatur entsteht.