"Der Islam sagt Ja zum Leben"

Ali Ghandour über das heutige Tabu von Sex und Erotik unter den Muslimen, das auch durch die Übernahme der Ideologien der Moderne entstand

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Ali Ghandour ist in Casablanca (Marokko) geboren, hat Arabistik und Politikwissenschaften in Leipzig studiert und promoviert derzeit in Islamischer Theologie. Ghandour hält regelmäßig Vorträge über den Islam und hat einen YouTube-Channel mit zahlreichen Vorträgen sowie den Blog Ibn Araabimit Artikeln und Übersetzungen. Soeben kam sein Buch "Lust & Gunst. Sex und Erotik bei muslimischen Gelehrten" heraus. Darin räumt er mit Klischees über die Muslime auf und kritisiert die Tabuisierung dieses Themas in der heutigen islamischen Welt.

Herr Ghandour, Sie haben soeben ein Buch veröffentlicht über Sex und Erotik in den Werken muslimischer Gelehrter. Das wird manche Zeitgenossen heute überraschen, denn Muslime werden oft als prüde wahrgenommen, die diese Themen gerne tabuisieren. Ist etwas dran an dieser Wahrnehmung, oder ist es lediglich ein Klischee?

Ali Ghandour: In der Tat wird das Thema Sex und Erotik heute unter den Muslimen tabuisiert. Die viktorianische Prüderie ist keine Fremdwahrnehmung, sondern leider eine Wirklichkeit unter einem großen Teil der Muslime. Bei dieser verklemmten Haltung gegenüber Sex und Erotik spielen auch die Gelehrten unserer Zeit eine Rolle.

Die meisten Gelehrten heute, würde ich behaupten, behandeln das Thema nur rein normativ. Das heißt, ihr Interesse liegt nur darin, die sexuellen Handlungen der Menschen zu beurteilen, das einem Voyeurismus gleich kommt. Dies kann man sehr gut anhand der Publikationen der letzten 120 Jahre belegen. Kein Gelehrter traut sich mehr, Werke über die Erotik als Kunst und Sex als Genuss zu schreiben. Früher waren die muslimischen Gesellschaften meiner Einschätzung nach nicht von dem Kontrollwahn des Sexuellen besessen, welcher heute manchmal unerträgliche Dimensionen erreicht hat.

Der Islam braucht keine sexuelle Revolution, sondern eher eine Befreiung vom Hijacking bestimmter Ideologien der Moderne

Seyran Ates forderte vor einiger Zeit in einem Buch eine "sexuelle Revolution" bei den Muslimen. Wenn man aber Ihr Buch liest, wirkt diese Forderung etwas absurd. Was sagen Sie zu solchen Forderungen, und wie war der Umgang mit diesem Thema in der islamischen Tradition?

Ali Ghandour: Frau Ates geht davon aus, dass die Haltung der Muslime zu Sex und Erotik immer die gleiche war. Das stimmt aber nicht, denn hier gibt es regionale und historische Unterschiede. Ich kann natürlich einige ihrer Kritikpunkte nachvollziehen. Zwangsehen, die Unterdrückung der Lust der Frau oder die Unterdrückung der Lust allgemein sind natürlich Probleme, die wir heute nicht ignorieren sollten. Allerdings braucht der Islam keine sexuelle Revolution, sondern eher eine Befreiung vom Hijacking bestimmter Kategorien und vor allem Ideologien der Moderne.

Der Islam mit seinen unterschiedlichen Traditionen ist eine Religion, die "ja" zum Leben sagt. In der Tradition des Islams vor dem 19. Jh. sind die Muslime und insbesondere sehr viele Gelehrte mit dem Thema anders umgegangen als heute. Stellen Sie sich vor, der Mufti von Ägypten würde heute ein Kamasutra ähnliches Buch oder Texte, die in ihrer Direktheit "Shades of Grey" gleichen würden, schreiben. Glauben Sie mir, das wäre ein Skandal.

Aber was die meisten nicht wissen, ist, dass es große Gelehrte in unserer Geschichte gab, die genau solche Werke geschrieben haben. Hier könnte man als Beispiel Imam as-Suyuti (gest. 1505) nennen, der ca. 10 Werke über das Thema verfasst hat, oder den osmanischen Gelehrten Ibn Kemal Pascha (gest. 1534). Man findet kaum ein Thema bezüglich Sex, worüber die Muslime vor dem 19. Jh. nicht geschrieben haben. Neben den normativen Werken findet man eine Fülle an Texten, welche die sexuellen Stellungen behandeln oder erotische und für uns heute sehr frivole Geschichten und Gedichte erzählen.

Das Thema wurde ohne Tabus unter allen damaligen bekannten Aspekten beleuchtet und zwar naturwissenschaftlich, literarisch, mystisch, normativ, ästhetisch und sprachlich. Das heißt, weder die Gesellschaft noch die Gelehrten hatten Interesse daran, das private Sexleben der Menschen zu kontrollieren. Natürlich gab es auch andere Positionen. Aber wichtig in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass die unterschiedlichen, ja sogar widersprüchlichen Positionen und Diskurse parallel zueinander existierten und alle den Anspruch erhoben, ein Teil des Islams zu sein, was sie ja faktisch auch waren. Das Bedürfnis, die andere Meinung ein für alle Mal aus dem Weg zu räumen, gab es nicht. Genau diese Haltung ist heute fast verloren gegangen.

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