Kniefall vor Erdogan

EU will trotz Zunahme von Menschenrechtsverletzungen an Beitrittsverhandlungen mit der Türkei festhalten

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Die Bilanz sieht nicht gut aus: Einen "bedeutenden Rückgang bei Meinungs- und Versammlungsfreiheit" konstatiert EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn in dem aktuellen Fortschrittsbericht in Bezug auf die Türkei. Auch in Sachen Unabhängigkeit der Justiz, Korruption, Beziehungen zu Zypern und der Lösung der kurdischen Frage stellt der Bericht erhebliche Mängel, bzw. Rückschritte fest.

Trotzdem will die Kommission an Beitrittsverhandlungen festhalten, weil der Türkei eine wichtige Stellung bei der Lösung der "Flüchtlingskrise" eingeräumt wird. Besonders irritierend allerdings ist die Tatsache, dass der Bericht nicht wie erwartet im Oktober, sondern erst nach den Parlamentswahlen am 1. November 2015 veröffentlicht wurde. Offenbar eine bewusste Entscheidung, mit der die Wahlen nicht beeinflusst werden sollten, womit aber letztendlich die EU Wahlkampfhilfe für Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan leistete.

Seit 1999 ist die Türkei EU-Beitrittskandidatin, seit 2005 werden Verhandlungen über den Beitritt geführt. Unabhängigkeit der Justiz sowie die Einhaltung der EU-Standards in Bezug auf demokratische Grundrechte sind wesentliche Kriterien für die Aufnahme von Staaten. Mit dem Fortschrittsbericht wird der Stand der Verhandlungen dokumentiert.

Die wesentlichen in dem aktuellen Bericht festgestellten Mängel sind:

  • "Die Unabhängigkeit der Justiz und das Prinzip der Gewaltenteilung wurden untergraben und Richter und Staatsanwälte stehen starkem politischen Druck."
  • "Die Bilanz der Türkei im Kampf gegen die Korruption nach wie vor unzureichend. Korruption ist weiterhin weit verbreitet."
  • "Die Verfassung der Türkei gewährleistet den Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten .Die Umsetzung hatte sich in den letzten Jahren verbessert. Es bleiben jedoch große Mängel. Die Durchsetzung von Rechten gemäß der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) sind nicht vollständig gewährleistet. Es besteht die dringende Notwendigkeit, ein umfassendes Rahmengesetz zur Bekämpfung der Diskriminierung im Einklang mit europäischen Standards zu entwickeln. Ferner muss die Türkei wirkungsvoll die Rechte von Frauen und Kindern und Lesben, Homosexuell, Bisexuellen, Transgender und Intersexuellen ( LGBTI ) Personen garantieren und dafür sorgen, dass genügend Aufmerksamkeit auf die soziale Eingliederung von schutzbedürftigen Gruppen wie die Roma gelegt wird."
  • "Es gab erhebliche Rückschritte in den Bereichen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit."
  • "Die Türkei hat noch immer nicht die Auflagen zur vollständigen und nicht diskriminierenden Umsetzung des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen erfüllt und nicht alle Hindernisse für den freien Warenverkehr, einschließlich der Beschränkungen bei den direkten Verkehrsverbindungen mit Zypern, ausgeräumt."

Was so nüchtern als "erhebliche Rückschritte in den Bereichen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit" beschrieben wird, bedeutet laut dem türkischen Menschenrechtsverein IHD 74 Angriffe auf öffentliche Demonstrationen in den Monaten Januar - September 2015, dabei wurden 88 Personen verletzt. 1.975 Hausdurchsuchungen, bei denen eine nicht bekannte Anzahl von Personen willkürlich misshandelt und gefoltert wurde. Von den in dem Zeitraum in Gewahrsam genommenen 3.564 Menschen waren 293 Kinder. Der IHD spricht von unmenschlicher Behandlung in Hafteinrichtungen. 86 Personen wurden in Haft gefoltert, außerdem kam es zu sexuellen Übergriffen.

Dabei ist die Verschärfung der Repression in den letzten Monaten vor der Parlamentswahl am 1. November 2015 noch nicht einberechnet. Erdoğan ließ weite Teile der kurdischen Gebiete in den Ausnahmezustand versetzen, ganze Ortschaften tagelang belagern und beschießen, dutzende Journalistinnen und Journalisten verhaften. Am 28.10.2015 wurde der Sender Koza Ipek bei laufendem Betrieb von Sicherheitskräften gestürmt. Laut Reporter ohne Grenzen (ROG) befindet sich die Türkei derzeit auf Platz 149 von 180 auf der Rangliste der Pressefreiheit:

Die Regierung unter Recep Tayyip Erdogan übt zum Teil direkten Druck auf die Medien aus. Regierungsmitglieder rufen etwa in Redaktionen an, um zu verlangen, dass regierungskritische Berichte von Webseiten entfernt werden. Während der gewaltsamen Proteste rund um den Gezi-Park 2013 wurden Journalisten sowohl von Demonstranten als auch von Sicherheitskräften gezielt angegriffen. Kaum ein Vorfall wurde strafrechtlich verfolgt. Strenge Internetgesetze ermöglichen das Blockieren kritischer Webseiten. Im März 2014 ließ die Regierung vorübergehend Twitter sperren.

Reporter ohne Grenzen

Die Eskalation des Konflikts mit der PKK kostete in den vergangenen Monaten hunderte Menschenleben. Nach Angaben regierungsnaher türkischer Zeitungen wurden allein im Zeitraum Juli bis Anfang Oktober 2015 rund 150 Sicherheitskräfte sowie ungefähr 1.100 PKK-Kämpfer getötet. Ein Ende von Repression und Krieg ist auch nach den Wahlen bis jetzt nicht in Sicht.