Krankenhaus Kunduz: Töten auf Zuruf

US Special Forces wollten das Krankenhaus von Ärzte ohne Grenzen von feindlichen Kräften säubern

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Die "Green Berets" der 3rd Special Forces Group, die den Luftangriff auf das Krankenhaus (Afghanistan: Kriegsziel Krankenhaus) von Ärzte ohne Grenzen (Médecins Sans Frontières, MSF) befehligt haben, waren nach neuesten Informationen von Associated Press (AP) 800 Meter entfernt und hatten keine Sicht auf das Gebäude. Auch die afghanischen Spezialeinsatzkräfte waren eine halbe Meile entfernt und konnten das Gebäude nicht sehen. Dennoch wurde die Bombardierung des Krankenhauses angeordnet.

Etwa 35 Soldaten der US Special Forces sollten 100 afghanischen Elitesoldaten ab dem 30. September dabei helfen, Kunduz von den Taliban zurückzugewinnen. In der Nacht des zweiten Oktober eroberten die US-Soldaten das Regierungsgebäude des Provinzgouverneurs. Kurz darauf gerieten sie jedoch unter "unaufhaltsame Sturmangriffe von Wellen von Talibankämpfern", so AP. Die Spezialeinsatzkräfte forderten daraufhin "Close Air Support" (CAS) an, um den Gegenangriff der Aufständischen zu bekämpfen.

Die Ambulanz des Krankenhauses nach dem Angriff. Bild: Dan Sermand/MSF

Immer wenn US Special Forces in Kommandoaktionen gegen den Feind vorgehen, werden Optionen zum CAS vorgehalten. In diesem Fall kreiste ein AC-130 Special Operations Command gunship in einiger Entfernung. Dadurch konnte die angeforderte Luftunterstützung in wenigen Minuten erfolgen. Das "fliegende Kanonenboot" sollte vor allem die Kommando- und Kommunikationszentren der Taliban bekämpfen, um den schweren Widerstand zu brechen. Die Ergebnisse der internen Untersuchung von MSF (Krankenhaus Kundus: Das Ziel war töten und zerstören), verweisen hingegen eindeutig auf eine ruhige Nacht.

Wenige Stunden später forderten plötzlich die afghanischen Spezialeinheiten einen Angriff auf das Krankenhaus von MSF an. Obwohl diese Einheiten zu diesem Zeitpunkt etwa 800 Meter von der Klinik entfernt waren. Sie konnten demnach weder von dort beschossen worden sein, noch konnten sie überhaupt sehen, was in dem Gebäude vor sich ging. Gleichwohl behaupteten die afghanischen Spezialkräfte, dass das Krankenhaus eine der Kommandozentralen der Taliban sei und drängten darauf, dass es zerstört werden müsse.

Die US Special Forces waren noch immer ebenfalls 800 Meter Luftlinie vom Krankenhaus entfernt, etwa 1,2 Kilometer Fußweg mit hunderten Gebäuden dazwischen. Es ist also vollkommen ausgeschlossen, dass amerikanische Soldaten aus dem Krankenhaus beschossen wurden oder auch nur annähernd sehen konnten, was in oder um dem Gebäude herum geschah. Dennoch wurde der Luftangriff befohlen.

Den Notizen des Tagesprotokolls eines Offiziers der Green Berets ist zu entnehmen, dass die US Special Forces wussten, dass es sich bei dem Gebäude um ein Krankenhaus handelte und dass es aktiv betrieben wurde. In den Notizen steht allerdings auch, dass das Krankenhaus von Taliban kontrolliert werde. Woher diese Information stammt, ist hingegen unklar. Entscheidend ist der Eintrag für den 3. Oktober. Eines der Tagesziele ist: "Säubern des Krankenhauses von feindlichen Kräften."

Green Berets der 3rd Special Forces Group haben den Luftangriff auf das Krankenhaus von MSF befehligt. Bild: US Army

Persuasive Kommunikation und Perzeptionsmanagement

An dieser Stelle wird also wieder das Narrativ bemüht, dass sich im Krankenhaus bewaffnete Aufständische aufgehalten haben sollen oder sogar Agenten des pakistanischen Geheimdienstes ISI, die wahlweise die Taliban oder Al Qaeda unterstützen würden. Special Forces und militärischer Nachrichtendienst hätten zahlreiche Hinweise analysiert, wonach sich schwere Waffen auf dem Gelände befinden würden sowie der ominöse ISI-Agent.

Dieses Narrativ hält sich hartnäckig, obwohl es bisher nicht den geringsten Beweis dafür gibt. Der Luftangriff auf ein Krankenhaus, zumal eines von Ärzte ohne Grenzen, ist für US-Militärs ein PR-Desaster. Und entsprechend haben die Krisenkommunikatoren ihre Arbeit aufgenommen. Offensichtlich soll im Sinne persuasiver Kommunikation die Behauptung nur häufig genug wiederholt werden, um somit möglichst viele Menschen zu überreden.

Wenn nur beständig genug berichtet wird, dass sich Taliban oder ISI Agenten im Krankenhaus befanden, dann werden dies auch einige Menschen beginnen zu glauben. Für die, die man damit nicht erreichen kann, wird das Perzeptionsmanagement eingesetzt. Hierbei geht es nicht darum, jemanden von irgendetwas zu überreden. Vielmehr sollen die Einstellungen und Gefühle gegenüber einem Sachverhalt verändert werden. Das Massaker an Zivilisten, zumal Ärzten, trifft unwillkürlich auf resolute Ablehnung in der Bevölkerung. Mithilfe des Perzeptionsmanagements wird nun versucht, die Beurteilungen, die Empfindungen bezüglich des Luftangriffs, zu verändern.

AP konnte Notizen zu einem Gespräch einsehen, die belegen, dass der afghanische Nationale Sicherheitsberater Hanif Atmar, direkt nach dem Luftangriff auf das Krankenhaus die explizite Berechtigung des Präsidenten Ashraf Ghani hatte zu erklären, dass die afghanische Regierung die volle Verantwortung für den Angriff trage. Denn es hätte keine Zweifel gegeben und man sei zu 100 Prozent überzeugt davon, dass der Ort von Taliban besetzt gewesen sei.

Dadurch hätte das Krankenhaus seinen besonderen völkerrechtlichen Schutz verloren und der Angriff sei somit vollkommen gerechtfertigt, so die Überlegungen der afghanischen Offiziellen. Hamdullah Danishi, Provinzgouverneur von Kunduz, erklärte, dass sich die Taliban an keine Kriegsregeln halten würden. "Sie nutzen bewohnte Gebiete und Zivilsten als Schutzschilde, inklusive Wohnungen, Krankenhäuser, Schulen, Moscheen und öffentliche Plätze. Das ist der Grund, warum wir sagen, dass sich die Taliban während der Angriffe auf dem Krankenhausgelände und in anderen Plätzen versteckten."

Es geht offensichtlich nicht darum, den völkerrechtlichen Schutz zu gewähren, sondern die Logik der Krieger als moralische Logik zu etablieren: Der Gegner muss vernichtet werden, koste es, was es wolle. Und wenn er Zivilisten oder Verletzte als Schutzschild benutzt, dann wird er dennoch bekämpft und die Schuld an Kollateralschäden trägt dann ausschließlich der Feind.

Joshua Katz, ehemaliger CIA-Agent für verdeckte Operationen, versuchte diese Sicht bei FoxNews ebenfalls unterzubringen. Demnach sei MSF durchaus schuldig, da diese Terroristen behandeln würden und mehr noch, ihnen materielle Unterstützung zukommen lassen würden. MSF wird nach dieser Logik zu einer Kriegspartei, da sie Terroristen verarzten und diese dadurch wieder in den Kampf eingreifen und amerikanische Soldaten töten können.

Es scheint genau diese Logik und Weltsicht zu sein, die US-amerikanische wie afghanische Verantwortliche zu etablieren versuchen.

Allerdings gibt es mehr als einen Monat nach dem Massaker und Tage nach Bekanntgabe der internen Untersuchung von MSF keine Belege, die diese Behauptungen stützen würden. Ganz im Gegenteil hatte der Untersuchungsbericht von MSF deutlich hervorgehoben, dass auf dem Gelände und im Krankenhaus keine Schusswaffen erlaubt und auch keine bewaffneten Kämpfer anwesend waren.

Augenzeugen berichteten gegenüber AP, dass sie keine Aufständischen im Krankenhaus gesehen hatten. Nagieb Khaja, dänischer Kriegsreporter, konnte in einem unbedingt sehenswerten Report für VICE News ebenfalls mit Augenzeugen (und mit Taliban) sprechen.

Augenzeuge: In der Nacht des Luftangriffs sind Talibankämpfer in das Krankenhaus eingedrungen, weil sie dachten, dass es nicht angegriffen würde.

Khaja: Hast du sie gesehen, wie sie das Krankenhaus betraten?

Augenzeuge: Ja.

Khaja: Wie?

Augenzeuge: Das wurde mir von Augenzeugen, die sich sicher waren, erzählt.

Khaja: Hatten sie Waffen dabei?

Augenzeuge: Ja, hatten sie.

Khaja: Konntest du das selbst beobachten?

Augenzeuge: Sie haben mir gesagt, dass sie sie gesehen haben.

Khaja: Wer hat dir das gesagt?

Augenzeuge: Nachbarn.

Khaja: Haben es die Nachbarn mit ihren eigenen Augen gesehen? Ich habe nämlich auch mit den Nachbarn gesprochen und die haben mir gesagt, dass sie nichts gesehen haben.

Augenzeuge: Ich sage dir, sie haben sie gesehen.

Khaja: Ich habe mit Leuten gesprochen, die nichts von dem gesehen haben, was du gerade beschreibst.

Augenzeuge: Es war halt Nacht als sie angriffen.

Wendepunkt Kunduz?

Es mehren sich die Hinweise, dass sich die US Special Forces beim Befehl zur Bombardierung des Krankenhauses ausschließlich auf Informationen der afghanischen Verbündeten verlassen haben.

AP versucht nun ganz im Sinne der US-Verteidigungsstrategie zu hinterfragen, ob man sich denn in Afghanistan einfach auf Informationen der Afghanen verlassen dürfe. Zumal die US-Einheiten hoch entwickelte Informationstechnologien zur Verfügung haben. Dabei fokussiert diese Fragestellung völlig falsch.

Denn genau genommen scheint bei dem Angriff nichts Ungewöhnliches geschehen zu sein. Im Mittelpunkt steht, dass Menschen getötet werden, weil irgendjemand irgendwelche nicht überprüfbaren Informationen vorhält. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Informationen vom afghanischen oder US-Geheimdienst bereitgestellt werden.

Eingang zur physiotherapeutischen Abteilung nach dem Angriff. Bild: Dan Sermand/MSF

Für die Situation des Luftangriffes ist es auch unerheblich, ob US-Soldaten direkt bedroht waren oder ob Terroristen präventiv ermordet werden, weil sie nationale Interessen der USA gefährden. In beiden Fällen erhalten die Schützen Befehle, auf die sie sich verlassen müssen. In beiden Fällen vertrauen sie auf die Informationen.

Allein 2015 gab es bisher 168 bestätigte Luftangriffe des US-Militärs in Afghanistan. Dabei wurden bis zu 1.000 Menschen getötet. Die meisten Angriffe werden von Drohnen geflogen. Zusätzlich wurden 2015 3.824 Close Air Support Einsätze in Afghanistan geflogen mit 363 Waffeneinsätzen. Im Irak haben 2015 bereits 8.064 solcher Luftangriffe stattgefunden. Seit 2004 hat die CIA 421 bestätigte Drohnenangriffe in Pakistan geflogen mit bis zu 4.000 Toten. In Jemen wurden seit 2002 über 100 CIA-Drohnenangriffe geflogen mit bis zu 800 Toten. Und das sind alles sehr konservative Annahmen, die nicht einmal die Operationen des Joint Special Operations Command (JSOC) umfassen.

All diesen Angriffen ist eines gemein. Sie beruhen auf Informationen, die irgendein Nachrichtendienst oder irgendwelche Spezialeinheiten bereitstellen. Häufig sind es sogar "Informationen", die mehr oder weniger verbündete Geheimdienste übermitteln. Bis zu 90 Prozent der Informationen stammen dabei aus Daten von SIGINT (Signals Intelligence), also von abgehörten bzw. abgefangenen Kommunikationsdaten. Dass allein Metadaten ausreichen, um Menschen zu töten, ist mittlerweile ebenfalls gut dokumentiert

In allen Fällen wird also auf Zuruf getötet. Jemand behauptet eine Gefahr, ob aktuell oder in naher Zukunft, und jemand anderes vernichtet daraufhin Menschenleben, ohne die Informationen überprüfen zu können. In der Regel interessiert dies jedoch auch niemanden, weil es nur irgendwelche Araber oder Muslime trifft. Menschen, die durch jahrzehntelange Propaganda irgendwie als kollektiv schuldig empfunden werden.

Im gegenwärtigen Falle trifft es aber eine honorige, mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete humanitäre Organisation, dazu noch eine westliche. Und plötzlich könnte die Praxis des Tötens auf Zuruf im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen, so denn reichweitenstarke Medien sich dieser grundsätzlichen Problematik annehmen würden.

Die Opfer des völkerrechtswidrigen Angriffes auf das Krankenhaus von MSF könnten so zu einem Wendepunkt der Kriegsführung beitragen. Luftangriffe, ob per Drohne oder per Kampfflugzeug, müssen stärker reglementiert werden. Das Töten aufgrund vager Informationen, das Töten auf Zuruf, muss unterbunden werden. Es trifft immer Unschuldige. Dessen muss man sich bewusst sein. Denn es hat nie eine rechtsstaatliche Überprüfung der Vorwürfe oder Informationen gegeben.

Und auch jetzt wieder werden die Sachverhalte und Informationen, die zu dem Blutbad in Kunduz geführt haben, ausschließlich von den tatausführenden Parteien untersucht. Die Krieger setzen die Regeln und die Krieger überprüfen die Einhaltung der Regeln. Das Töten auf Zuruf mag die bevorzugte Praxis der Militärs sein, aber sie darf nicht die tolerierte Praxis demokratischer Rechtsstaaten sein.