Facebook-Hysterie nach Paris

Sind alle Menschen gleichwertig?

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Wie viel wert hat ein Menschenleben? Nach den Terrorattacken in Paris zeigt unsere europäische Mediengesellschaft, wie wenig sie sich mit grausamen Geschehnissen auf der Welt auskennt oder von diesen wissen will. "Wir sind Frankreich" und Tricolor-Fahnen als Profilbilder auf Facebook beweisen das selektive Beileid der Europäer.

Zwei Tage nach sechs Terroranschlägen in Paris steht die Welt weiterhin unter Schock. Die Bilanz der blutigsten Nacht in Frankreich seit dem Zweiten Weltkrieg ist erschütternd: 129 Tote, über 250 Verletzte, darunter 102 in kritischem Zustand.

Google und Youtube malen die Logos in Farben der französischen Fahne. Facebook geht sogar weiter und bietet einen kostenlosen Dienst an: Der Hintergrund des Profilbildes kann binnen Sekunden in "drapeau français" umgewandelt werden. Und schon ist die Facebook-Freundesleiste nicht zu erkennen.

Wie infiziert folgen im Solidaritätsrausch die meisten meiner Facebook-Freunde dem Trend. Zuckerberg reagiert auf einige Ereignisse schneller als manche Medienhäuser. Die letzten suchen noch nach Synonymen für "Horror" und "unvorstellbar", der Kalifornier schaltet den Dienst "Mark yourself safe during Paris Terror Attacks" ein. Der nächste Wahnsinn, um sicherzustellen, ob die französischen Bekannten nicht auf der Totenliste gelandet sind. Sollte man nicht die Bekannten anrufen, anstatt auf die Check-Ins im Sozialnetzwerk zu warten? Der "Mark yourself"-Dienst ist nicht neu und wurde zuerst nach dem Erdbeben in Nepal eingesetzt.

Wo früher Selfies im Badezimmer oder Frühstücksfotos aus chicen Restaurants waren, sieht man heute brennende Kerzen und das Bild des Eifelturms im Peace-Zeichen von Jean Jullien. Schon verschwinden Katzen- und Hundevideos, Marathon-Ergebnisse oder Foursquare-Places … nichts ist relevant. Nur Paris. Unser Paris. Frankreich.

Es kommt schon zu den ersten Gedichten, jemand schreibt ein Lied und lädt es hoch. Manche machen Fotos vor der französischen Botschaft in Berlin, Moskau und London. Selfies mit Blumen als Gedenken an die Toten? Die Tagesschau im Live-Ticker. Jede Stunde aktualisierte Informationen, neue Details. Manche Moderatoren müssen öfters runterschlucken, so groß ist der Schock. Wichtig dabei ist die Mitteilung "keine Deutschen unter den Opfern". So war es vorgestern, heute stellt das Auswärtige Amt fest, ein Deutscher war bei Anschlägen getötet worden.

Dieser Nachricht widmet die Tagesschau einen ganzen Nachrichtenblock. So viel wert ist das Leben eines Deutschen. Gleichzeitig zeigen sich die meisten Medien über die Aussagen von Baschar al-Assad empört. "Die fehlgeleitete Politik der westlichen Staaten, vor allem Frankreichs […] haben zur Expansion des Terrorismus beigetragen", so Assad. Zudem hat der syrische Präsident hinzugefügt, was in Paris passierte, sei in Syrien Alltag. Hunderttausende Tote und Millionen von Flüchtlingen - die erschreckende Realität eines früher stabilen Landes.

In meiner Heimat Moldawien war Syrien ein Ziel vieler Gastarbeiter, gut bezahlt und relativ sicher. Nun versinkt es im Chaos. Verwüstete Städte, wo auf brutale Art und Weise ermordete Zivilisten zum täglichen Geschehen geworden sind. Vergangene Woche stellten die IS-Anhänger im Jemen ein Video ins Netz. Etwa 200 Jugendliche im Alter von 13 und 16 Jahren sollen erst gefesselt und dann exekutiert worden sein. An diesem Freitag sind bei einer Beerdigung in Bagdad mindestens 18 Menschen durch einen Bombenanschlag ums Leben gekommen. 41 sind schwer verletzt, die meisten werden eventuell nicht überleben. In Beirut sprengten sich zwei Terroristen in die Luft: 43 Tote und mindestens 200 Verletzte.

Libanon, Irak, Syrien … der Krieg ist dort Alltag. Doch nicht bei uns in Europa. Nicht in Frankreich, im Land der Presse- und Meinungsfreiheit. Im Land, für welches Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit zu den wichtigsten Werten einer demokratischen Gesellschaft zählen. Vielleicht haben wir alle Angst bekommen, dass der Krieg auch zu uns kommt? Wir als Waffenexporteure und große Redner wollen die "demokratischen Werte" eifrig verteidigen und haben nicht damit gerechnet, dass der Krieg zu uns kommen könnte, in unser gemütliches Leben.

Syrien oder Libanon sind weit entfernt. Aber was ist mit der Ukraine? So weit ist die Entfernung nicht. Dort sind zum jetzigen Zeitpunkt mehrere tausend Menschen gestorben und der Krieg ist längst nicht vorbei. Die Berichterstattung hat das zweitgrößte Land Europas mittlerweile vergessen. Auch als dort mindestens 47 Menschen bei immer noch (!) ungeklärten Umständen im Gewerkschaftshaus in Odessa ums Leben gekommen sind, konnte ich keine Live-Ticker-Berichte finden. Ich kann mich auch nicht an irgendwelche Facebook-Dienste erinnern, wo man das Profilbild in Gedenken an die Opfer ändern konnte.

Woran ich mich erinnern kann, ist, wie ich dort ein paar Tage nach der Tragödie stand. Im Gebäude, wo Menschen lebendig verbrannt und die Überlebenden am Boden zu Tode geschlagen wurden. An den Geruch verbrannten Fleisches. Bei der Tagesschau war es nur ein "Brand" und eventuell haben sich die Verbarrikadierten selbst mit Molotowcocktails beschossen. Am nächsten Tag war die Nachricht verschwunden.

Und was ist mit dem russischen Flugzeug, in dem 220 Menschen aus dem Urlaub nach Hause flogen? Ich habe keine große Trauer auf Facebook oder in Medien gesehen. Dem Thema wurde viel zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Ich habe auch keine russischen Fahnen gesehen und keine schönen Sätze wie "Russland, wir sind mit euch!" Kann das Beileid selektiv sein? Kann ein Menschenleben viel mehr wert sein als das andere?

Natürlich ist es zynisch, sich über die Größe des Beileids zu streiten. Als ob man sich bei der Beerdigung über die Schönheit oder den Preis der Särge streiten würde. Aber warum trauern wir, eine globalisierte Gesellschaft, mehr um die Nachbarn als um diejenigen, die zu Tausenden wie Hühner in Schlachthöfen umgebracht werden?

Viele warten auf die neuste Ausgabe des Satire-Magazins "Charlie Hebdo". Meine Facebook-Community wettet schon, ob die Karikaturisten die letzten Geschehnisse in Paris "auslachen werden". Die politische Satire ist einer der wenigsten Plätze, wo Demokratie und Meinungsfreiheit noch funktionieren. Die Grenzen werden von Menschen gemacht und diese sind meistens nicht geografisch, sondern im Kopf.

Diejenigen, die "Je suis Charlie" als Profilbilder hatten, beschimpfen nun die Redakteure in Angst vor neuen Karikaturen. Doch was bleibt, wenn nicht über den Tod zu lachen? Das machen die Franzosen seit Jahrhunderten. Man sollte sich französische Folklore-Lieder anhören oder Werke wie "König Ubu" von Alfred Jarry lesen. Wenn die Politik versagt, wäre es gut zusammenzuhalten.