Der terroristische Krieg gegen die Städte

Paris hat gezeigt, dass der Krieg in den Städten stattfindet und die Front überall ist

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Die Anschläge von Paris haben erneut vor Augen führt, dass Städte, vielmehr Großstädte mit den Orten, wo sich Menschenmassen aufhalten oder bewegen, zu den Angriffszielen asymmetrischer Kriegsführung und damit zu Kriegsschauplätzen geworden sind. Neu an der Form der Anschläge ist nicht, dass mehrere Gruppen von Tätern koordiniert als vernetzte Zellen an mehreren Stellen gleichzeitig oder kurz nacheinander zuschlagen.

Das ist spätestens seit den gleichzeitigen Anschlägen mit Autobomben auf die Botschaften der Vereinigten Staaten in Daressalam und Nairobi am 7. August 1998 zum Konzept des islamischen Terrorismus geworden. Auch wenn Kriege weit entfernt mit Drohnen, Flugzeugen und/oder eigenen, aber auch Proxie-Bodentruppen, am Hindukusch oder wo auch immer geführt werden, finden sie in den Medien zunehmend in Echtzeit, aber eben auch in den Städten kriegsführender Länder statt.

Das war in der Frühzeit des Anschlags, ein Akt der urbanen Kultur, der schon immer an die Öffentlichkeit gerichtet war und Massenmedien ebenso wie Dynamit voraussetzte, noch anders. Paris war bereits in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts für zwei Jahre lang Ort von Anschlägen, die in der Regel von Einzelnen begangen wurden, von "einsamen Wölfen", vor denen auch heute wieder die Angst umgeht und die islamistische Terrorgruppen wie der IS auch zum Handeln anstacheln wollen. Nach dem blutigen Zusammenschlagen der Pariser Kommune, das eher ein Krieg war und mehr als 20.000 Menschen das Leben kostete, und dem Entstehen des anarchistischen Konzepts der "Propaganda der Tat", die in den 1880er Jahren zu einer Welle von Anschlägen auf Regenten führte, begann eine Serie von Anschlägen, die sich auch bereits auf Cafés und Restaurants richteten und jeden zum Opfer machten, der sich zufällig dort aufhielt. Die Logik glich bereits derjenigen aller Terroristen, die nicht mehr Repräsentanten der Macht, sondern beliebige Menschen als Stellvertreter angreifen. So erklärte der 21-jährige Emile Henry, der 1894 eine Bombe in das Café Terminus im Luxushotel Hotel Concord geworfen hatte, wobei ein Gast getötet und 20 verletzt wurden: "Es gibt keine Unschuldigen. Die Bourgeoisie soll endlich begreifen, dass die, die gelitten haben, ihrer Leiden müde sind. Sie kennen keine Achtung vor dem Menschenleben, weil die Bourgeoisie es auch nicht respektiert."

Fanden die Guerillakriege und ihre Überfälle aus dem Hinterhalt früher eher in Gebieten außerhalb der Städte statt, in denen die Kämpfer untertauchen und aus denen sie überraschend zuschlagen konnten, in Wäldern, unübersichtlichen ländlichen Gebieten oder gebirgigen Gegenden, so sind diese Kampfzonen spätestens seit Beginn der hochauflösenden Satellitenüberwachung, der GPS-Lokalisierung und der mit vielen Sensoren bestückten Aufklärungsflugzeuge und jetzt mit Drohnen, mit denen Ziele unerkannt verfolgt werden können, und Flugschiffen oder Überwachungstürmen, mit denen sich Gebiete permanent beobachten lassen, sowie mit der Überwachung der Kommunikation und der Lokalisierbarkeit der Kommunizierenden gefährlich geworden. Mit Präzisionsraketen oder -bomben lassen sich lokalisierte Ziele anzielen und vernichten. Die Drohnen haben dabei eine wichtige Zeitlücke zwischen Beobachtung und Vernichtung aus der Ferne geschlossen.

Ein gutes Beispiel dafür ist der Versuch, nach den Anschlägen auf die US-Botschaften in Afrika den vermuteten Drahtzieher Osama bin Laden aus der Ferne zu töten. 1998, als der damalige US-Präsident Clinton, während er stark unter Druck durch die Lewinsky-Affäre stand, den Befehl gab, eine vermeintliche Waffenfabrik im Sudan und Bin Laden in einem al-Qaida-Lager in Afghanistan zu bombardieren, gab es einen nicht unerheblichen Zeitabstand zwischen der Beobachtung und dem Feuern der Raketen. Bin Ladens Aufenthaltsort hatte man anhand seiner Nutzung des Satellitentelefons ausmachen können, aber es gab nur die Möglichkeit, Kampfflugzeuge loszuschicken oder Marschflugkörper von Schiffen im Roten Meer abzuschießen, die beide tausende Kilometer überfliegen mussten. Letzteres hatte man gemacht, aber als die Tomahawk-Raketen einschlugen, war Bin Laden bereits abgereist. Ende 2001 fand der erste Angriff mit einer bewaffneten Drohne in Afghanistan statt. Überwachung durch Drohnen und gezielte Tötungen mittels Raketen, die von Drohnen abgeschossen werden, sind sinnvoll in ländlichen Gegenden, aber oft nicht in den verdichteten Räumen von Städten, wo Kollateralschäden kaum auszuschließen sind.

Terroristisches Wettrüsten

Zudem erfolgte eine weitere strategische Anpassung der Terroristen/Aufständischen an die verbesserten technischen Überwachungs- und Schutzmöglichkeiten. Die Kultur des Anschlags rechtfertigte sich zu Beginn dadurch, dass durch Anschläge auf hohe Vertreter eines Systems dieses durch Verbreitung von Angst und Schrecken destabilisiert werden sollte. Ungezielte Angriffe auf beliebige Menschen wurden schon von Künstlern als surrealer Akt gepriesen und schließlich übernommen. Zunächst beispielsweise in der Form, zivile Passagierflugzeuge zu entführen und die Menschen als Geiseln zu nehmen, um schließlich Bombenanschläge auf zivile, nicht bewachte Ziele durchzuführen (soft targets), weil die Menschen in einem Land mit den Regierenden und den die Macht als Polizisten und Soldaten Vertretenden im Sinne des totalen Kriegs identifiziert werden.

Seitdem kann jeder, der sich zufällig in einem als feindlich geltenden Gebiet aufhält, zum für die Terroristen legitimen Opfer eines Anschlags werden (auf der anderen Seite muss in manchen Ländern auch jeder, der als Terrorist verdächtigt wird, damit rechnen, mit den Menschen, die um ihn herum sind, zum Opfer eines gezielten Anschlags mit Präzisionsraketen aus Kampflugzeugen oder von Drohnen zu werden). Während auf der einen Seite im asymmetrischen Krieg die Entwicklung von Präzisionswaffen und die Führung eines "sauberen" Hightech-Kriegs perfektioniert und kultiviert werden, weil jeder Kollateralschaden dem Ansehen und der Legitimation schadet, verfolgt die militärisch unterlegene Seite die Strategie, mit minimalen bzw. leicht verfügbaren Mitteln möglichst großen Kollateralschaden zu bewirken. Das Fanal dafür waren natürlich die Angriffe mit den gekaperten Passagiermaschinen auf das Zentrum von New York, die medienästhetisch kaum zu überbietende Zerstörung des WTC und die Verursachung von Tausenden von Toten.

Es gibt in solchen Kriegen keine räumlich markierbare Front mehr, wie sie derzeit etwa noch zwischen dem Donbass und der Ukraine oder zwischen der Nato und Russland auf klassische Weise besteht, der Krieg kann überall mit allen verfügbaren Mitteln stattfinden. Eine herkömmliche Armee ist nicht mehr erforderlich, schon ein Einzelner kann mit konventionellen Waffen, mit Schusswaffen und selbstgebastelten Bomben, einen verheerenden Angriff auf Orte ausführen, an dem sich viele Leute aufhalten.

Der Islamische Staat ist zwar eine Ausnahme von anderen aufständischen Gruppen oder Terrororganisationen, weil er nicht allein von der Dynamik der mörderischen Erfolge lebt, sondern ein großes, zusammenhängendes Gebiet kontrolliert und damit auch staatliche Funktionen wahrnimmt, auch wenn es beständig durch die Kämpfe an vielen Orten territoriale Veränderungen gibt. Aber auch hier spielen Städte und die zwischen ihnen verlaufenden Verbindungswege eine wichtige Rolle in einer Zeit, in der es normalen Armeen nicht mehr ohne weiteres möglich ist, ganze Städte dem Erdboden gleich zu machen. Zuletzt hat das Russland im Tschetschenienkrieg vorgeführt, den es damit gewonnen hat, auch wenn der Terror damit verstärkt zurück in die russischen Städte kam und zu Massengeiselnahmen wie in Moskau oder Beslan führte. Auch Israel hat mit seinen letzten Angriffen auf Gaza vorgeführt, wie ein Stadtkrieg aussehen könnte, der große Teile einer Stadt zerstört, die nicht im eigenen Staatsgebiet liegt.

Gegen Selbstmordattentäter gibt es keinen wirksamen Schutz

Der islamistische, also nicht mehr politisch, sondern religiös begründete Terrorismus brachte noch ein weiteres strategisches Mittel ein, das praktisch alle Sicherheitsmaßnahmen aushebeln kann: die Bereitschaft, bei einem Angriff nicht nur das eigene Leben aufs Spiel zu setzen, sondern den Suizid zum Einsatz zu machen. Der von den Attentätern von Madrid 2004 überlieferte Slogan: "Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod" streicht diese Strategie heraus, für die sich freilich auch Menschen finden lassen müssen, die apokalyptisch gestimmt sind oder für sich keine Zukunft sehen. Die Ausschaltung des risikominimierenden Selbsterhaltungsprinzips durch Selbstmordattentäter ist eine Herausforderung, die kaum zu bewältigen ist. Das Christentum kannte eine solche Märtyrerleidenschaft im Römischen Reich, die schließlich gebremst werden musste, als die christliche Religion nicht mehr Opposition war, sondern Staatsreligion wurde.

Mit dem islamistischen Selbstmord-Terrorismus wurden Zug um Zug Sicherheits- und Überwachungsmaßnahmen ausgebaut und neben den Versuchen, bestimmte Gebäude in der Regel vor Autobomben und deren Folgen zu schützen (Autobomben als billige Massenvernichtungswaffen), auch das Konzept der gated nation zunächst in Israel, dann auch in den USA oder in Saudi-Arabien, Schritt für Schritt wird das auch in der EU Wirklichkeit werden. Die weltweite Überwachung der Kommunikations- und Datenströme, digitale, biometrische Ausweise und andere Maßnahmen bei der Grenzkontrolle zur Identifizierung von Menschen und Dingen wie Scannern, massenhaftes Anbringen von Überwachungskameras, auch mit Gesichtserkennung, in den Städten, wichtigen Gebäuden und Verkehrsmitteln und Anbringen von Personen- und Gepäckschleusen, Ausbau der Geheimdienste, höhere Präsenz der Sicherheitskräfte oder das permanente Hochsetzen der Terrorwarnstufe können Anschläge auf und in Städten nicht verhindern.

Man kann eine Großstadt nicht abriegeln und zur gated city machen, wenn man sie nicht mit einem großen Aufgebot umstellt und alle Wege kontrolliert. Zuletzt haben die US-Truppen dies mit Falludscha und einigen anderen kleineren Städten im Irak gemacht, indem sie um die ganze Stadt einen Sandwall konstruierten, die Einwohner zum Verlassen der Stadt aufforderten, die wenigen Ein- und Ausgänge kontrollierten und dann die Stadt Haus und um Haus mit brutaler Gewalt von Terroristen "säuberten". Aber hier hatten Islamisten die Städte besetzt, wodurch diese für sie selbst zu Fallen wurden. Wenn es aber nicht um "wilde Städte" geht, die ganz oder teilweise von Aufständischen/Terroristen kontrolliert werden, sondern um Großstädte im eigenen Land, die als soft targets für selbstmörderische Angriffe dienen, deren einziger Zweck es ist, Angst und Schrecken zu verbreiten, ist dies kaum zu verhindern, wie Paris wieder zeigte, nachdem die Regierung nach dem Überfall von Charlie Hebdo die Sicherheitsmaßnahmen noch einmal deutlich verschärft hatten.

Das Hochrüsten der Schutzmaßnahmen führt dazu, dass sich die Anschlagsplanungen verändern. Schon seit Jahren propagiert AQIP, der al-Qaida-Ableger im Jemen, der vermutlich mit dem Islamischen Staat die Anschläge im Januar auf Charlie Hebdo und den jüdischen Supermarkt koordinierte, den "Open Source Jihad". Um Reisen und Absprachen zu vermeiden, die beobachtet werden können, soll dieses Konzept der Polizei und den Geheimdiensten unbekannte Anhänger im jeweiligen Land (home grown) anstacheln und über das Internet, beispielsweise über das Online-Magazin Inspire, mit Tipps versorgen, auf eigene Faust Anschläge zu planen, die Waffen zu besorgen und auszuführen.

Im Unterschied zu den Anschlägen im Januar oder den Boston-Attentätern waren die Anschläge jetzt in Paris aber wieder sorgfältig geplant und organisiert. Offenbar hat eine den französischen Diensten nicht bekannte Terrorzelle in Belgien, der auch Franzosen angehörten, den Anschlag geplant und ausgeführt, wie der französischen Innenminister Cazeneuve gestern sagte. Nach Angaben türkischer Behörden haben diese einen Anschlag in Istanbul am selben Tag verhindert. Das spräche dafür, dass die Drahtzieher nicht nur Frankreich, sondern auch die Türkei sowie das Treffen der G20 unter Druck setzen und demonstrieren wollten, dass sie Anschläge international ausführen können. Zudem wäre noch deutlicher geworden, dass die Kämpfe nun in allen Städten stattfinden können.

Bei den Islamisten kommt hinzu, dass es sich um Feinde der urbanen Kultur handelt. Das ist auch logisch bei Fundamentalisten, die sich buchstäblich auf Texte beziehen, die aus der Zeit von Stammesgesellschaften stammen. Auch das Alte Testament ist anti-urban. Die monotheistischen Religionen wollten mit der Moral den Aufbruch der urbanen Gesellschaften verhindern oder ihn zähmen. Geschichten vom Turmbau zu Babel oder der Vernichtung der unzüchtigen Städte Sodom und Gomorra sind Ausdruck dieser auf eine enge, dörfliche und autoritär strukturierte Gemeinschaft Ideologie, die in Wellen immer wieder den Aufstieg der urbanen Gesellschaft und deren Dynamik begleitet hat. Wenn in dem IS-Bekennerbrief der Angriff auf Paris auch damit begründet wurde, dass es die Hauptstadt der Unzucht sei, so ist dies durchaus ernst zu nehmen. Es sind allerdings die Menschen aus den Städten, die gegen diese revoltieren und sich in ein übersichtliches und geordnetes Leben vor der urbanen Kultur zurückbomben wollen. Die Feindschaft gegenüber Kultur und dem Wissen, gegen Aufklärung und Lust überhaupt, ist den islamistischen Fundamentalisten eingeschrieben.

Noch haben die Attentäter die Technik nicht wirklich entdeckt, die in den Kriegen von den hochgerüsteten Staaten schon eingesetzt wird. Man wird darauf warten müssen, dass nicht Selbstmordattentäter versuchen, in ein Sportstadion einzudringen, um sich dort in die Luft zu sprengen, sondern einfach eine mit Sprengstoff beladene Drohne verwenden.