Markieren die Anschläge von Paris ein europäisches 9/11?

Tatkräftige Entschlossenheit zum immergleichen Handeln wird demonstriert, kaum einer wagt es, zur Besinnung aufzurufen

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Sechs Tage nach den verheerenden Anschlägen von Paris haben alle politischen und journalistischen Meinungsführer ihre persönliche Anteilnahme ausgedrückt und sich im gleichen Atemzug gewohnt urteilssicher zu den Ereignissen positioniert. Unisono wird tatkräftige Entschlossenheit demonstriert, kaum einer wagt es, Ratlosigkeit zu äußern oder zur Besinnung aufzurufen.

Diesem Reflex entsprechend fühlten sich auch Frankreichs Politiker verpflichtet, ihren Schnellanalysen unmittelbar Taten folgen zu lassen. Für Premierminister Valls stand innerhalb kürzester Zeit fest, dass die Terrorserie von Syrien aus organisiert wurde, und Präsident Hollande ließ in einer Blitzreaktion die IS-Hochburg Raqqa bombardieren.

Bild: defense.gouv.fr

Wie viele syrische Zivilisten bei diesem ersten Vergeltungsschlag getötet wurden, ist nicht bekannt. Wir wissen aber, dass der Krieg in Syrien in den letzten vier Jahren mindestens 250.000 Menschen das Leben gekostet hat. Ein großer Teil davon waren unbeteiligte Männer, Frauen und Kinder - darunter viele Opfer der Assadschen Fassbombenangriffe.

Mehrfach war zu lesen, dass Europa mit dem vergangenen schwarzen Freitag nun auch sein 9/11 erlitten hätte. Inwiefern dieser Vergleich sinnvoll ist, wird sich in naher Zukunft weisen - eines ist aber ganz sicher richtig: Schon der Respekt vor den Toten in Paris gebietet es, Trauer nicht postwendend durch Aktionismus zu ersetzen. Viel konstruktiver könnte es sein, einmal inne zu halten und sich vor Augen zu führen, welche Entwicklung sich seit dem 11. September 2001 vollzogen hat.

Der Krieg gegen den Terror

Unmittelbar nach den Anschlägen auf das World Trade Center hat die US-Regierung ihren "Krieg gegen den Terror" ausgerufen, mit dem Ziel, die "Achse des Bösen" zu besiegen und die Zivilisation der gesamten Welt zu verteidigen. Auch wenn die beiden genannten Leitbegriffe mittlerweile aus der offiziellen Sprachregelung verschwunden sind, prägen sie bis heute ganz wesentlich die US-Außenpolitik und damit das Weltgeschehen.

Die NATO-Partner sind in diesen Krieg mit eingestiegen, der sich sehr schnell auf einige Staaten rund um den Nahen Osten fokussierte. Mit Verteidigungsetats, die die Welt in dieser Größenordnung zuvor nie gesehen hatte, wurde unter anderem in Afghanistan, im Irak und in Libyen massiv militärisch interveniert.

Gerade in diesen Tagen, 14 Jahre und mehr als eine Million Tote später, ist es dringend geboten, die zentralen Fragen zu stellen: War die Strategie dieses Anti-Terror-Krieges erfolgreich? Ist das Leben in der westlichen Welt durch die unzähligen Militäroperationen und den Aufbau eines riesigen Überwachungsapparates sicherer geworden? Haben sich Gemeinwohl und demokratische Verfasstheit in den "Schurkenstaaten" nach Beseitigung der Schurken verbessert?

Die Antworten kennt man sowohl in Washington als auch in den europäischen Hauptstädten: Dieser Krieg hat es in keinem einzigen Punkt geschafft, die Lebensqualität auf unserem Planeten zu verbessern, und das Argument, dass wir durch ihn vor Schlimmerem bewahrt wurden, ist in keiner Weise belegt.

Als grundlegend falsch erwiesen sich bereits vor 9/11 die Kriterien, nach denen der Westen seine Bündnispartner in den Zielregionen des Anti-Terror-Krieges auswählte. Dieses Kardinalproblem zieht sich von Afghanistan (Unterstützung der Mudschahedin durch die CIA) bis in den aktuellen Syrienkonflikt, wo das Erstarken des IS zunächst als hilfreich im Kampf gegen Assad bewertet wurde, und wo bis heute Saudi-Arabien als Verbündeter gilt, obwohl von dort aus der IS unterstützt wird.

Anstatt in den betroffenen Ländern nach Kräften zu suchen, die die Zivilgesellschaft stärken, wurden im unbedingten Glauben an das Primat des Militärischen gewaltbereite Gruppierungen aufgebaut, um deren ideologische Ausrichtung man sich nicht weiter scherte, solange die Waffenbrüderschaft gegen den gemeinsamen Feind gewährleistet war. Die Ausweitung des Kriegsgeschehens tat dann ihr Übriges: Friedliebende Bevölkerungsmehrheiten verloren massiv an Einfluss. Die sich immer schneller drehende Gewaltspirale spülte genau diejenigen Gewalt-affinen Typen nach oben, die sich später als die berühmten Geister entpuppten, die man zuerst schwer bewaffnete und dann nicht mehr los wurde.

Auch ist es offensichtlich, dass brachiale Militäreinsätze die Radikalisierung innerhalb und außerhalb der Kriegsregionen förderten und damit den Terrorgruppen ständig neuen Zulauf bescherten. Ursache für diesen Effekt war zum einen die unzähligen unbeteiligten Zivilisten, die dem "Krieg gegen den Terror" zum Opfer fielen. Zum anderen war es nicht sehr überzeugend, dass Armeen, die für westliche Werte zu kämpfen vorgaben, genau diese Werte missachteten, indem sie z. B. Folter als Verhörmethode erlaubten und anwendeten oder tausendfach Verdächtige ohne Gerichtsverfahren per Drohne hinrichteten.

Ein weiteres Imageproblem der Anti-Terror-Koalition entstand dadurch, dass die USA und ihre Verbündeten zu keinem Zeitpunkt den Verdacht ausräumen konnten, diesen "Krieg gegen den Terror" weniger für Demokratie und Menschenrechte als für die eigenen wirtschaftlichen und militärstrategischen Interessen zu führen.

Dosiserhöhung der tödlichen Medizin

All das wissen Obama, Hollande, Cameron, Merkel & Co. und es ist bemerkenswert, welche realpolitischen Schlussfolgerungen sie aus dieser ziemlich eindeutigen Faktenlage ziehen. Da sie nicht willens sind, die unauflösbaren Widersprüche und Fehler ihrer Strategie zu erkennen, verordnen sie ganz einfach eine Dosiserhöhung der Medizin: noch mehr Geld für Rüstung, noch mehr Luftschläge, noch mehr Drohneneinsätze, noch mehr Überwachung. Verblüffend, wie sie es dabei immer wieder schaffen, dass wir Wähler dieses Festhalten an militärischer "Logik" trotz offensichtlicher Erfolglosigkeit und riesiger "Kollateralschäden" Wahl für Wahl durchwinken.

Warum vertrauen wir gerade denjenigen Politikern, die darauf beharren, stets das Richtige getan zu haben ohne jegliche Evidenz dafür vorweisen zu können? Die es nicht offen aussprechen können, dass sie derzeit kein schlüssiges Lösungskonzept parat haben? Wir alle wissen doch, dass für die sich immer höher auftürmenden Probleme keine schnellen und einfachen Auswege zu finden sind. Und wir wissen auch, dass hinter aufgeblasenem Aktionismus und tumbem Weiter-So zumeist große Feigheit verborgen liegt.

Wäre es nicht die angemessenste Ehre, die unsere Führungselite den Toten von Paris erweisen kann, wenn das Betrauern der vielen verlorenen Leben endlich zur Besinnung und zum Nachdenken darüber führte, was in den vergangenen 14 Jahren im Kampf gegen den Terrorismus so schrecklich schief gelaufen ist, und welche Schlussfolgerungen man aus den Fehlern der Vergangenheit ziehen muss um die völlig verfahrene Situation zu deeskalieren?

Sollte sich jedoch der 13. November 2015 im Rückblick als der Tag herausstellen, an dem die vielbeschworene westliche Wertegemeinschaft zum zweiten Mal in Richtung westliche Rachegemeinschaft abgedriftet ist, wäre das aus Sicht des Terrorismus die Fortsetzung eines widerlichen "Erfolges" von 9/11.