Nach Abschuss des russischen Kampfflugzeugs: Ruhe vor dem Sturm?

Zu vermuten ist, dass die Türkei aus eigenen geostrategischen Interessen die Suche nach einer gemeinsamen Lösung des Syrien-Konflikts torpedieren wollte

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Der Abschuss des russischen Kampflugzeugs, das angeblich in 6 km Höhe über dem türkisch-syrischen Grenzgebiet geflogen ist, hat die Möglichkeit, zu einer internationalen Lösung des Syrien-Konflikts und eines gemeinsamen Kampfs gegen den IS zu gelangen, erschwert. Ausgerechnet die beiden Länder stoßen damit aufeinander, die sich zwar in den Kampf gegen den IS eingereiht haben, aber vornehmlich andere Gruppen bekämpfen: die Türken die Kurden bzw. die PKK, die Russen die bewaffnete Opposition, die gegen Assads Truppen kämpft.

Eine SU-24. Bild: Sputnik

Bislang halten sich noch alle Parteien zurück, aber das kann sich ändern. Ungeklärt ist, ob das Flugzeug im türkischen Luftraum, wie die Türkei behauptet, oder über syrischem Territorium, wie Moskau erklärt, abgeschossen wurde. Weltweit ist man in Sorge, was sich aus dem Vorfall kurz vor dem Besuch des französischen Präsidenten Hollande bei US-Präsident Obama und danach beim russischen Präsidenten Putin, entwickeln könnte. Die Ölpreise sind in die Höhe geschnellt, an den Börsen ging es weltweit hinunter.

Klar dürfte sein, wenn das Flugzeug über syrischem Territorium abgeschossen wurde, dass Moskau scharf reagieren wird, sofern sich die türkische Regierung nicht entschuldigt. Auch selbst wenn die russische SU-24 knapp in den türkischen Luftraum geraten wäre, ist nicht wirklich vorstellbar, dass man gerade jetzt die Türkei provozieren wollte, da die Lage für Putins Interessen im Nahen Osten nach den Wiener Gesprächen und vor dem Hollande-Besuch nicht schlecht war. Noch setzt man in Moskau auf eine "internationale Koalition", auch mit der Türkei, wie der russische Verteidigungsminister gestern Abend sagte.

Allerdings bekämpft die syrische Armee mit der Hilfe der russischen Bombardierungen seit Wochen auch die von der Türkei und den USA unterstützen bewaffneten Gruppen, zu denen auch Turkmenen gehören. Die türkische Regierung hatte bereits gewarnt, dass man diese unterstützen werde. Wie so oft sind die Terroristen der einen die Freiheitskämpfer der anderen. Schwer vorstellbar, wie sich Russland und die Türkei hier einigen könnten. Russland behauptet, in dem Gebiet Latakias würden an die tausend Terroristen aus dem Nordkaukasus kämpfen, die angegriffen worden seien.

Die Nato hat sich hinter die Türkei gestellt. Nach einer Sondersitzung erklärte Nato-Generalsekretär Stoltenberg, dass die Nato solidarisch mit der Türkei und dass die Lagebeurteilungen von "mehreren Alliierte" mit den Informationen der Türkei konsistent seien, also dass der russische Flieger in den türkischen Luftraum eingedrungen ist. Er rief zwar Russland dazu auf, auch gegen den gemeinsamen Feind, den IS, zu kämpfen, nicht aber die Türkei, die bekanntlich vor allem die PKK bombardiert. Ob das Flugzeug tatsächlich von einer türkischen Maschine oder von einer Boden-Luft-Rakete abgeschossen wurde, dazu wollte Stoltenberg nichts sagen. Er rief aber alle Seiten zur Deeskalation und Fortsetzung der Bemühungen auf, solche Vorfälle durch Absprachen in Zukunft zu vermeiden, was auch darauf hindeutet, dass diese zwischen Ankara und Moskau nicht wirklich stattgefunden haben.

Auch US-Präsident Obama stellte sich nach dem Gespräch mit dem französischen Präsidenten Hollande, den er mit seiner Bitte um eine Kooperation mit Russland abblitzen ließ, hinter die Türkei, während er gleichzeitig "totale Solidarität" mit Frankreich verkündete. Zwar rief auch er Russland und die Alliierten der USA dazu auf, die Situation nicht zu eskalieren, aber er gestand der Türkei das Recht zu, sein Territorium und seinen Luftraum zu verteidigen. Auffällig zurückhaltend war der US-Präsident allerdings darüber, ob der russische Jet tatsächlich in den türkischen Luftraum eingedrungen war, er wies nur darauf hin, dass der Vorfall zeige, wie riskant die militärische Intervention in den Konflikt ist. Pentagonsprecher Steve Warren sprach gestern zwar auch von einem "Einflug" (incursion), meinte aber, man müsse noch Radarbilder und andere Daten überprüfen. Damit zögert das Pentagon eine volle Unterstützung der türkischen Darstellung zumindest hinaus. "Der Vorfall hat sich an der Grenze ereignet", sagte er. "Diese Dinge sind nicht so sauber wie in den Kinofilmen."

Allerdings machte Obama einen großen Schritt, indem er sagte, er könne sich eine Lösung des Syrien-Konflikts unter der Bedingungen vorstellen, dass Assad erklärt, dass er nicht mehr zu einer Wahl antreten werden. Hollande erklärte, Russland müsse vornehmlich gegen den IS kämpfen und eine politische Übergangslösung akzeptieren.

Die türkische Version

Das russische Verteidigungsministerium und der russische Präsident Putin bestreiten jedoch vehement, dass die SU 24 in den türkischen Luftraum eingedrungen ist und dass es Warnungen seitens der türkischen Luftwaffe gegeben habe. Gestern Abend wurde der Spieß sogar noch umgedreht und der Türkei vorgeworfen, dass die zwei türkischen F-16-Kampfflugzeuge, die die russische Maschine abgeschossen haben, dazu in den syrischen Luftraum eingedrungen seien. Während das türkische Verteidigungsministerium behauptet, das russische Flugzeug habe türkisches Gebiet, das wie eine kleine Tasche nach Syrien hineinreicht, überflogen, sagen die Russen, das Flugzeug sei in 1 km Entfernung um die Tasche geflogen und dann von den türkischen Kampfflugzeugen im syrischen Luftraum angegriffen worden.

Trotz Putins Vorwürfen gegen die Nato und seiner Ankündigung von Konsequenzen gegenüber der Türkei scheint man in Moskau nicht auf eine militärische Karte setzen zu wollen, sondern auf Deeskalation. Kremlsprecher Dmitry Peskov betonte gestern noch einmal, dass Putin nicht von militärischen Konsequenzen gesprochen hat. Gegenüber der Türkei, müsste man hinzufügen, obgleich das russische Verteidigungsministerium sich weiter über fehlende Kommunikation auch bei der Rettung der Piloten beklagte.

Russland hat aber schon mal den Kreuzer Mosvka an die syrische Küste mit dem Auftrag geschickt, gegen jede Gefahr für russische Flugzeuge mit seinen Raketen vorzugehen. Alle "möglichen Gefährdungen" würden zerstört, kündigte das russische Verteidigungsministerium an. Zudem ist ein weiteres Kriegsschiff durch die Dardanellen ins Mittelmeer gefahren. Man muss also damit rechnen, dass nun auch das russische Militär jede Überschreitung nutzen könnte, um ähnlich zu reagieren. Außenminister Lawrow hat die geplante Reise in die Türkei abgesagt, das russische Verteidigungsministerium die militärischen Kontakte mit der Türkei suspendiert.

Die russische Version

Man kann auch davon ausgehen, dass die Unterstützung der syrischen Armee im Kampf gegen die Rebellengruppen an der türkischen Grenze in Latakia verstärkt werden wird. Schließlich hat die turkmenische Rebellengruppe, die als Teil der Freien Syrischen Armee von der Türkei und der CIA unterstützt wird und mit anderen Gruppen wie al-Nusra zusammenarbeitet, vermutlich einen russischen Piloten erschossen, als dieser sich mit einem Fallschirm landen wollte. Sie brüsten sich damit, dass beide Piloten tot seien. Zudem wurde von diesen noch ein russischer Hubschrauber beschossen, der auf der Suche nach den beiden Piloten war. Dabei sei ein russischer Soldat getötet worden.

Denkbar ist, dass die neue türkische Regierung mit Präsident Erdogan an der Spitze den sich anbahnenden Gesprächen zwischen Russland, der EU und den USA einen buchstäblichen Schuss vor den Bug setzen wollte, da die Türkei weiter auf den Kampf gegen die Kurden und die Assad-Regierung setzt und auch deswegen die Einrichtung einer Sicherheitszone an der syrischen Grenzen als Keil zwischen den von den Kurden kontrollierten Gebieten durchsetzen will, ohne dafür bislang großen Rückhalt zu finden.

Erdogan weiß auch, dass die USA die Türkei als Partner benötigt und dass die EU wegen der Flüchtlingskrise alles andere tun wird, als die Türkei unter Druck zu setzen, die man benötigt, um den Flüchtlingsstrom zu begrenzen und die zwei Millionen syrischen Flüchtlinge in der Türkei zu halten. Die türkische Regierung spielt jedenfalls offensiv und mit einem Harakiri-Selbstverständnis mit einem Risiko, das sich als gefährlicher erweisen könnte als die Gefahr, die vom IS ausgeht.