Propaganda auf afghanischen Straßen

Die Bundesregierung will Afghanen durch "Aufklärung" über deutsche Zustände abschrecken

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Nach Menschen aus Syrien sind Afghanen weiterhin die zweitgrößte Gruppe von Geflüchteten - auch in Europa. Viele von ihnen wollen nach Deutschland. Seit einiger Zeit versucht die Bundesregierung dem etwas entgegenzusetzen. Mit einer vor kurzem gestarteten Kampagne #‎RumoursAboutGermany sollen Afghanen von der Flucht abgehalten werden. Durch die Aktion, die sowohl auf den Straßen einiger afghanischer Großstädte sowie in den Sozialen Medien präsent ist, sollen Informationen über das "wahre Leben" in Deutschland verbreitet und Gerüchte aus dem Weg geräumt werden.

Laut Aussage der Bundesregierung handelt es sich bei der Kampagne nicht um "Abschreckung, sondern um Aufklärung". Bei genauem Hinsehen wird allerdings deutlich, dass es sich bei der vermeintlichen Informationskampagne vor allem um plumpe Propaganda handelt, die potenziellen Flüchtlingen jedwede Hoffnung auf ein besseres Leben in Deutschland nehmen soll.

Plakat zur Kampagne #‎RumoursAboutGermany‬. Bild: Deutsche Botschaft

So wird etwa nicht nur auf skrupellose Schlepper oder die Gefahren der bekannten Fluchtrouten aufmerksam gemacht, sondern unter anderem auch behauptet, dass man in Deutschland ohne Deutschkenntnisse nicht weiter komme. Etwa wird in einem Beitrag, der wie die meisten anderen sowohl in Englisch, Dari und Paschto zu lesen ist, explizit hervorgehoben, dass Deutsch die einzige Alltagssprache und deshalb besonders wichtig sei, um eine Arbeitsstelle zu bekommen. Englischkenntnisse - so heißt es - seien nicht besonders hilfreich.

Natürlich kann man von Migranten verlangen, die jeweilige Landessprache zu erlernen. Dies jedoch zu tun, bevor besagte Migranten überhaupt erst das Land erreicht haben, ist allerdings etwas fragwürdig. Abgesehen davon, dass die meisten afghanischen Migranten schnell Deutsch lernen, sobald sie in Deutschland (oder etwa auch in Österreich) angekommen sind, sollte in diesem Kontext hervorgehoben werden, dass man anfangs - und das sogar über einen längeren Zeitraum - mit Englischkenntnissen ohne Probleme auskommt.

Wäre dem nicht so, ließen sich in vielen Unternehmen, Universitäten oder anderen Institutionen in Deutschland wohl kaum Angestellte finden, die primär Englisch sprechen und teils sogar kein Interesse haben Deutsch zu lernen. Auch im Alltag ist die englische Sprache vor allem in großen Städten täglich präsent - und das ohne jegliche Probleme.

Ein anderer Beitrag wirft die Frage auf, ob alle Afghanen in Europa "erfolgreich" seien und versucht zu erläutern, warum dies nicht der Fall ist. "Viele Afghanen in Deutschland, die unqualifiziert sind oder nicht Deutsch sprechen, sind arbeitslos", lautet die Schlussfolgerung, die sich auf keinerlei empirische Fakten stützt, sondern völlig aus der Luft gegriffen zu sein scheint.

Tatsächlich hat die Empirie in den letzten Jahren nämlich immer wieder deutlich gemacht, dass die afghanische Diaspora anderen Migrantengruppen in Sachen Integration um einiges voraus ist. Mehrere Statistiken haben in den letzten Jahren gezeigt, dass sich unter den Migranten aus muslimisch geprägten Ländern Afghanen neben Iranern am schnellsten integrieren. So besuchen die Kinder viele afghanischer Migranten, die vor allem in den 80ern und 90ern nach Deutschland flüchteten, das Gymnasium, streben Hochschulabschlüsse an oder arbeiten bereits in hochqualifizierten Berufen.

In der vermeintlichen Aufklärungskampagne der Bundesregierung finden derartige Tatsachen keinerlei Erwähnung. Obwohl diese betont hat, dass man über die "tatsächlichen Lebensumstände in Deutschland" aufklären möchte, gewinnt bei mehreren Beiträgen den Eindruck, dass versucht wird, das Leben in Deutschland bewusst als schlechter darzustellen als es tatsächlich der Fall ist.

Beim Vergleichen einiger Beiträge fallen allerdings deutliche Widersprüche auf. Während zum Beispiel einerseits betont wird, dass die bloße Herkunft aus Afghanistan keinen positiven Asylbescheid garantiert und lediglich "Verfolgte" auf eine Aufenthaltsgenehmigung hoffen können, wird andererseits versichert, dass der deutsche Bundeswehreinsatz in Afghanistan bis Ende 2016 verlängert und die Anzahl der Soldaten auf 980 erhöht werde. Damit wird mehr oder weniger zugegeben, dass im Land weiterhin Krieg herrscht. Demnach könnte man im Weiteren den Schluss ziehen, dass die Flucht aus einem solchen Land doch irgendwie nachvollziehbar ist.

Dies machen auch die Zahlen deutlich. Allein im Halbjahr 2015 wurden laut UN mindestens 5.000 Zivilisten in Afghanistan getötet. Verantwortlich hierfür sind nicht nur aufständische Gruppierungen, sondern auch die afghanische Armee und Polizei, die in den letzten Jahren hauptsächlich von westlichen Staaten aufgebaut wurde.

In diesem Kontext erscheinen manche Beiträge der deutschen Propagandastelle besonders zynisch. So macht ein Beitrag etwa auf den Kindertag aufmerksam. "End all forms of violence against children", ist da zu lesen. 2014 wurden in Afghanistan mehr Kinder getötet als im Irak, in Syrien oder in Palästina. Nicht wenige von ihnen werden weiterhin zum Ziel von US-amerikanischen Drohnen. Afghanistan ist gegenwärtig das am meisten von Drohnen bombardierte Land der Welt. Vor allem in den letzten Monaten haben die Berichte über Drohnen-Angriffe zugenommen. Allein im Oktober sollen mindestens achtzig Luft- und Drohnen-Angriffe im Land stattgefunden haben. Dabei sollen über zweihundert Menschen getötet worden sein.

Von den Afghanen vor Ort wird die deutsche Propaganda kaum wahrgenommen. Die meisten Menschen lassen sich von ihren Fluchtplänen nicht abbringen. Die Schlangen vor dem Passamt in Kabul scheinen in diesen Tagen weiterhin kein Ende zu haben. Seit wenigen Monaten benötigen Afghanen einen neuen, biometrischen Pass, um das Land verlassen zu können. Der alte, handgeschriebene Pass wurde für ungültig erklärt. Vor den jüngsten Gefechten in Kunduz, wo die Taliban zeitweilig die Provinzhauptstadt unter ihrer Kontrolle gebracht hatten, gab das Passamt an, täglich 2.000 Pässe ausgestellt zu haben. Mittlerweile soll sich laut der Behörde diese Zahl verdreifacht haben. Tendenz steigend.