Geopolitische Interessen hinter dem Konflikt zwischen Russland und Türkei

Rot: Assad-Regierung, grün: "Opposition", gelb: Kurden, schwarz: IS. Bild: CC-BY-SA-4.0

Der Abschuss der russischen SU-24 erfolgte im Grenzgebiet zur Provinz Hatai, die Syrien für sich reklamiert

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Bei dem Konflikt zwischen Russland und der Türkei geht es nicht nur um die Unterstützung verschiedener bewaffneter Gruppen, sondern auch um geopolitische Interessen. Der Abschuss des russischen Kampfflugzeugs erfolgte über einem Gebiet, das für die vom Westen, von der Türkei und den Golfstaaten unterstützten gemäßigten oder islamistischen Gruppen eine hohe strategische Bedeutung hat - und damit auch für die von Russland unterstützte syrische Regierung.

Die Türkei bekämpft ebenso wie Russland kaum den Islamischen Staat, dafür aber die PKK und bezeichnet auch die syrischen Kurden der YPG als Terroristen. Unterstützt und mit Waffen versorgt, die teils von der CIA stammen, werden bewaffnete Gruppen, die gegen die syrische Armee kämpfen, darunter eben auch Turkmenen, die von der türkischen Regierung als "Brüder" und "Verwandte" betrachtet werden und die südlich der türkischen Provinz Hatai leben, von wo aus sie aus der Türkei versorgt werden können. Ansonsten gibt es nur noch einen Korridor an der türkisch-syrischen Grenze zwischen dem von den Kurden kontrollierten Afrin und den vom Islamischen Staat kontrollierten Gebieten der Provinz Aleppo. Für die Türkei ist wichtig, verbündete syrische Gruppen zu haben, um bei einer Lösung des Syrien-Konflikts mit am Tisch zu sitzen. Und um die Kontrolle über dieses Gebiet zu erlangen, fordert die türkische Regierung exakt dort die Einrichtung einer Flugverbotszone. Während die Grenze zu den kurdischen Gebieten von der Türkei kontrolliert wird, ist sie gegenüber den Gebieten, die vom IS und den übrigen bewaffneten Gruppen kontrolliert werden, offen.

Russland, das taktisch mit den Kurden sympathisiert, unterstützt die syrische Armee sowie die Hisbollah-Milizen bei der Offensive, das Grenzgebiet südlich der Hatai-Provinz unter Kontrolle zu bringen. Damit würde hier die über die türkische Grenze erfolgende Versorgung der bewaffneten Gruppen, die wie Ahrar al-Sham, Al-Nusra oder so genannte gemäßigte Gruppen im Umkreis der Freien Syrischen Armee wie die turkmenische Al-Liwaa Al-Ascher fi Al-Sahel gegen die syrische Armee kämpfen, unterbunden.

Daher griffen die russischen Flugzeuge offenbar auch turkmenische Dörfer in dem gebirgigen Bayirbucak-Gebiet an der syrisch-türkischen Grenze an, was die türkische Regierung vor allem deswegen aufschreckte, weil die Gefahr besteht, dass die direkten Verbündeten in Syrien zurückgedrängt werden könnten. Zu den türkischen geostrategischen und politischen Interessen kam allerdings auch eine von der Erdogan lange geschürte nationalistisch-sunnitische Stimmung im Land, durch die der Druck auf die türkische Regierung wuchs, den syrischen Turkmenen zu Hilfe zu kommen. Man kann davon ausgehen, dass der Abschuss der russischen Maschine tatsächlich im Kalkül gelegen hatte, Russland einen Warnschuss zu versetzen, um die Interessen klar zu stellen und der eigenen Bevölkerung zu demonstrieren, dass man die "Brüder" schützt. Relativ sicher konnte die türkische Regierung sein, dass die Türkei als Nato-Staat Unterstützung erhält und seinerseits von Russland nicht angegriffen wird, während man gegenüber der EU sowieso die Trumpfkarte der Flüchtlinge besitzt, also auch hier höchstens besorgte Rufe zur Deeskalation erwartet werden konnten, aber keine Kritik am riskanten Vorgehen. Sollte die Erdogan-Regierung von dieser strategischen Lage ausgegangen sein, hätte sie jedenfalls richtig gelegen.

Doch im Hintergrund der Reibereien zwischen der Türkei und Syrien steht noch ein anderer geopolitischer Streitpunkt. Schon lange liegen Syrien und die Türkei im Streit um die kleine, aber dicht besiedelte türkische Provinz Hatai, die am Mittelmeer tief in den Nordwesten Syriens hineinragt und den südlichsten Teil der Türkei bildet. Hauptstadt ist Antakya, das frühere Antiochia. Nach der Niederlage des Osmanischen Reichs und der Entstehung der modernen Türkei erhielt Frankreich nach dem vorhergehenden Sykes-Picot-Abkommen, mit dem 1916 schon einmal die britischen und französischen Gebiete aufgeteilt wurden, das Völkerbundmandat für den Libanon, Syrien und Hatai (Alexandretta), während Großbritannien der Irak, Jordanien und Palästina zu gesprochen wurde. Letztes Jahr hatte der Islamische Staat in den von ihm kontrollierten Gebieten die Aufhebung der Grenze zwischen Syrien und dem Irak und damit das Ende der Grenzziehung des Sykes-Picot-Abkommen gefeiert.

Turkmenische Kämpfer der Al-Liwaa Al-Ascher fi Al-Sahel

Die Herrschaft der Franzosen dauerte bis 1946, als Syrien unabhängig wurde. Hatai, wo viele Turkmenen lebten, die allerdings nicht die Mehrheit stellten, war als selbständiges Gebiet verwaltet worden, die Türkei erhob Ansprüche, obgleich die Türkei im Vertrag von Lausanne 1923 mit ihrer Unterschrift anerkannt hatte, dass Hatai syrisches Gebiet ist. 1937 wurde es kurzzeitig ein autonomes Gebiet, das politisch weiter von Frankreich verwaltet wurde, militärisch war aber neben Frankreich auch bereits die Türkei beteiligt. 1938 wurde es zu einer Republik mit einer türkischen Regierung. In einem Geschacher übergab Frankreich schließlich nach einem umstrittenen Referendum 1939 Hatai der Türkei, darauf hoffend, dass sich das Land nicht Hitler anschließen wird. Nach der Annexion verließen viele Armenier, Alawiten, arabische Sunniten und Christen die Provinz. Jetzt leben hier Türken, Araber und Christen, aber eben auch Turkemenen.

Syrien hatte immer der Annexion widersprochen, die Gültigkeit des Referendums bestritten und Hatai für sich beansprucht, auch auf Karten wurde das Gebiet gerne als syrisches Territorium dargestellt. Seit die türkische Regierung den Sturz oder Rücktritt von Assad fordert, hat die syrische Regierung die Forderungen wieder verstärkt, auch mit der Unterstützung Russlands. Möglicherweise liegt es neben den militärischen Zielen auch im Interesse der syrischen Regierung, die Turkmenen aus der Region um Hatai zu vertreiben. Möglicherweise aber hat hier auch das russische Kampfflugzeug provoziert, falls es tatsächlich hier für ein paar Sekunden in den türkischen Luftraum eingedrungen sein sollte, wie die Türkei behauptet.

Solch ein Verhalten kennt auch die Türkei gut. Seit einiger Zeit dringen nach Angaben des griechischen Verteidigungsministeriums türkische Kampfflugzeuge und Militärhubschrauber gerne einmal in den griechischen Luftraum ein. Während die Türkei seine Luftwaffe ausbaut, ist das Pleiteland Griechenland trotz seiner verhältnismäßig großen Streitkraft derzeit behindert. Beide Länder streiten über territoriale Ansprüche in der Ägäis. Griechenland beansprucht ein Hoheitsgebiet im Luftraum im Umkreis von 10 Meilen um seine Inseln, die Türkei erkennt nur 6 Meilen an. Üblich wären nach internationalem Recht eigentlich 12 Meilen, aber schon mit 10 Meilen würde griechisches Territorium bis an die türkische Küste reichen. Gestritten wird auch über einige kleine Inseln. Wenn die türkischen Militärflugzeuge näher an die griechischen Inseln heranfliegen, betrachtet die die türkische Regierung den Luftraum als international, für Griechenland ist dies eine Verletzung des griechischen Luftraums.

Der griechische Außenminister Nikos Kotzias soll seinem russischen Kollegen Lawrow sein Beileid zum Abschuss des Flugzeugs ausgedrückt haben. Nach Darstellung des russischen Außenministeriums habe er gesagt, Griechenland sei "solidarisch mit der Einschätzung des russischen Präsidenten, der die Handlungen Ankaras als nicht freundschaftlich und den Zielen der Anti-IS-Koalition zuwiderlaufend bezeichnet hatte". Hingewiesen wird dabei eben darauf, dass die Türkei wiederholt den griechischen Luftraum verletzt.