Sprunghafter Anstieg der Anschläge auf Flüchtlingsheime

"Ich fühle mich, als wär ich jemand anders gewesen." Täter stammen oft aus der Mitte der Gesellschaft und gelten als "nette Jungs"

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Wie reagiert eine Gesellschaft auf eine Dimension der Zuwanderung, wie sie sie bislang nicht kannte? Dazu gibt es die nächste erstaunliche Zahl: Mehr als 700 Angriffe auf Flüchtlingsheime verzeichnet das BKA in diesem Jahr. Dazu gehören "etliche Brandanschläge". Die Zahl 700 wird kontrastiert mit der Summe der Anschläge vom letzten Jahr: 177. Ein sprunghafter Anstieg also, wie bereits Anfang November festgestellt wurde.

Die aktuelle Auskunft kommt von der Tageschau. Auf der BKA-Homepage ist sie nicht zu lesen.

Damit zeigt sich schon ein Teil des Problems: die Informationspolitik. Wie sieht denn die BKA-Information zu den Anschlägen genau aus? Warum kann man sie nicht bei der angegebenen Informationsquelle einsehen? Wie begründet sich die Zurückhaltung der Behörde?

Das Problem, welches der aktuelle Tageschau-Bericht im Kern umkreist, ist bekannt: "Die Täter stammen oft aus der Mitte der Gesellschaft." Das Rätsel, welches er umrundet, besteht darin, dass Eltern, Freunde, Vereinsmitglieder, der Bekanntenkreis und die Behörden bekunden, sie hätten keine Ahnung gehabt, dass der nette Typ mitten unter uns einen Brandsatz auf eine Flüchtlingsunterkunft werfen, also einen Mord versuchen könnte. Vonseiten der Ermittler wird dazu ergänzt, dass die Täter aus der Mitte der Bevölkerung, "nie zuvor straffällig geworden" seien und dazu der Schluss daraus:

Damit ist auch oft der Kreis der möglichen Tatverdächtigen extrem groß.

Es geht um ein Wahrnehmungsproblem, darum, welche Bedingungen die Hemmschwelle zur Gewalt gegen Flüchtlinge herabsetzen, und wie es um die Gewaltbereitschaft steht.

Asylbewerberheim in Berlin. Foto: Peter Kuley/CC BY-SA 3.0

Dem Tagesschau-Bericht liegt eine Recherche des mittlerweile dafür bekannten Medientrios NDR, WDR und SZ zugrunde, die eine Annäherung über die Darstellung von Einzelfälle (vgl. hier) unternimmt. Das hat den Vorzug des Konkreten, aber den Nachteil, dass allgemeine Schlüsse schwierig sind.

Einblick eröffnet dies in zweierlei Hinsicht: Dass sich manche Täter über die Tragweite ihres Handelns nicht im Klaren sind und dass die Schablone "rechtsextreme Szene" als Suchbild nicht funktioniert. Die in der Reportage vorgestellten Täter gehören ihr nicht an.

Der Bürgermeister in Salzhemmendorf, wo ein Molotowcocktail in ein Haus mit Flüchtlingen geworfen wurde, geht in seiner Aussage noch weiter: Von verbreitetem Fremdenhass oder einer organisierten rechten Szene gebe es in seinem Ort keine Spur. Nichtsdestotrotz fanden sich auf den Mobiltelefonen der Täter Sprüche wie: "Ich bin der neue Adolf! ...nix Zyklon B.!!! Erhängt wird das Pack!!!"

Der allgemeine Schluss, den der Tagesschau-Bericht dazu zieht, lautet, dass rechte Sprüche "offenbar zum Alltag gehören".

In einem Brief eines der Täter an eine Redakteurin der Dokumentation findet sich der Satz: "Ich fühle mich, als wär ich jemand anders gewesen."

Aus dem Brief geht hervor, dass sich der Täter erst später darüber bewusst wurde, dass er Menschen hätte umbringen können, dass er Menschen angegriffen hat und kein Abstraktum. Zum Phänomen der Gewaltbereitschaft gehören nicht nur Hemmschwellensenker wie Alkohol, sondern auch, dass Flüchtlinge nicht als konkrete Menschen, sondern abstrakt als Figuren einer nicht fassbaren Bedrohung wahrgenommen oder dazu verformt werden.

Aktuell erlebe man Täter, die "ohne jede Beziehung zu ihren Opfern sind", sagt ein Richter, der damit erklärt, weshalb sich die Ermittler schwer damit tun, den Tätern auf die Spur zu kommen.

Laut BKA, wiederum zitiert über die Tagesschau, "begehen viele rassistische Menschen Straftaten, die den Ermittlungsbehörden nie zuvor als Rechtsextreme aufgefallen sind". Daher würden nur wenige Täter gefasst. Von den ermittelten Tätern sei nur ein Drittel der organisierten rechtsextremen Szene zuzuordnen. Es gibt ein neues Milieu, das zur Gewalt bereit ist, läßt sich aus den BKA-Aussagen schließen. Im BKA spricht man von einem "fremdenfeindlichen, rassistischen Klima, geschürt durch einige Gruppen und Internet-Beiträge, das den Bodensatz für derartige Anschläge bereitet".