Wie Europa auf Lesbos versagt

Mahdi (Camp Moria). Bild: Fabian Köhler

Zuständig für die Flüchtlinge wären griechische und europäische Behörden, doch diese überlassen die Versorgung Hilfsorganisationen und freiwilligen Helfern

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Die Wärme, die Europa an diesem Abend spendet, stammt von einem Haufen brennender Tetra-Packs. Mahdi hat sie dort ins Lagerfeuer zu den Olivenzweigen geworfen. Im Camping-Zelt nebenan sitzen seine zwei Töchter, seine Ehefrau und seine Mutter, und warten. Vor zwei Tagen endete die Flucht des 27-jährigen Afghanen vorerst auf der griechischen Insel Lesbos.

In Kabul gehörte ihm eine Speditionsfirma, auf dem ersten Fleckchen Europa verbringt er nun seine Zeit vor allem mit Warten. Darauf, dass das Lagerfeuer den Kalten Boden im Olivenhain zumindest etwas erträglicher macht. Auf einen Platz im Kunststoff-Container hinter dem Stacheldrahtzaun. Auf die Erlaubnis, das Camp verlassen zu dürfen, um im Hafen wieder tagelang auf einem Pappkarton warten zu dürfen.

Mahdi ist einer von hunderttausenden Flüchtlingen, die sich in diesem Jahr aufmachten, um ein besseres Leben zu suchen, und die ein europäisches Aufnahmelager fanden. "Registrierungszentrum" nennen griechische Behörden das Lager auf Lesbos, das so viele Flüchtlinge wie sonst keines in Europa passieren müssen. "Hotspot" heißt das Camp Moria in der Sprache der EU.

Bild: Fabian Köhler

In der Theorie soll Europas "Flüchtlingskrise" hier humaner und effizienter gestaltet werden. In der Praxis landen hier all jene, die nicht das Glück haben, einen der wenigen Kunststoff-Kartons zu ergattern, auf Pappkartons und in Campingzelten, zwischen Müllhaufen und unter freiem Himmel.

Die Versorgung der Flüchtlinge übernehmen Freiwillige und Hilfsorganisationen

Über eine halbe Million Flüchtlinge reisten in diesem Jahr über griechische Inseln in der Ost-Ägäis nach Europa ein. Bis zu 5000 Menschen pro Tag erreichen noch immer die Küsten von Lesbos.

Als Flüchtlinge auf den Bürgersteigen und Vorgärten der Insel immer unübersehbarer wurden, antworteten griechische Behörden mit der Errichtung zweier Flüchtlingslager fernab der Augen der Inselbewohner. Rund sechs Kilometer nördlich der Hafenstadt Mitilini liegt das Camp Moria. Hinter hohen Metallzäunen und Stacheldraht werden hier rund 2000 Menschen pro Tag registriert. Bis zu 4000 Flüchtlinge leben gleichzeitig in dem Lager, das eigentlich für 400 gedacht war.

Camp Moria. Bild: Fabian Köhler

"Ich schäme mich für die Unfähigkeit der EU, mit diesem menschlichen Drama umzugehen", sagte Griechenlands Premierminister Alexis Tsipras Ende Oktober und versprach wenige Tag darauf bei einem Besuch auf Lesbos, er werde sein Bestes tun, um den Flüchtlingen der Insel zu helfen.

"Es ist eine Schande", sagt hingegen Bob und meint die griechische Regierung. Auf dem Mietwagen des Mit-40ers klebt ein Aufkleber der britischen Hilfsorganisation Oxfam. Im Kofferraum stapeln sich die Kisten mit Fladenbrot und Plastikschachteln voll mit Reis und Rosinen. "Wir wechseln uns mit 'Safe The Children' ab. Heute sind wir mit der Essensverteilung dran", erzählt Bob. Rund eintausend Mahlzeiten werden er und Freiwillige bis Tagesende verteilt haben. Viel zu wenig für alle Flüchtlinge. Die Gelder dafür stammen von Spenden.

Lediglich ein Wachmann und Polizeischilder erinnern an die Verantwortung Griechenlands

Zu wenig Essen, zu viel Gewalt, zu lange Wartezeiten: Seit Monaten klagen Flüchtlinge auf Lesbos über zu wenig Hilfe, klagen Helfer über zu wenig Unterstützung durch lokale Behörden, klagt die Kommunalverwaltung, Athen lasse sie allein, klagt die griechische Regierung über fehlende Gelder aus Brüssel, klagt Brüssel über fehlende Zusagen der EU-Mitgliedsstaaten. "Eigentlich" ist deshalb ein Wort, das man auf Lesbos häufig hört, wenn man fragt, warum sich die Versorgung der Flüchtlinge auch nach Monaten nicht verbessert hat.

Bild: Fabian Köhler

Eigentlich sollten doch FRONTEX und die griechische Küstenwache die Menschen vor dem Ertrinken retten, sagen die freiwilligen Rettungsschwimmer im Norden der Insel. Eigentlich wollte Athen doch mehr Schiffe schicken, eigentlich könnte man die Flüchtlinge doch mit Fähren abholen, sagt Lesbos' Bürgermeister Spyros Galinos.

Rettungsschwimmer auf Lebos. Bild: Fabian Köhler

Eigentlich sollten EU-Behörden längst 600 und nicht nur 67 Mitarbeiter auf die griechischen Inseln entsandt haben. Eigentlich sollten die EU-Mitgliedstaaten längst doppelt so viele Mitarbeiter für das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen freigestellt haben. Eigentlich wird Camp Moria von griechischen Behörden und der EU verwaltet. In der Praxis erinnern daran nur ein einsamer Wachmann, ein Wasserwerfer und die Räumschilder der Polizei hinter dem Zaun.

Die einzigen Hauptamtlichen verkaufen Vodafone-Sim-Karten

Dass es auch anders geht, zeigt Kara Tepe. Das zweite Flüchtlingslager auf Lesbos wurde auf Initiative des Bürgermeisters Spyros Galinos ins Leben gerufen. Und mit ihm die ethnische Separierung der Flüchtlinge. "Kara Tepe ist so etwas wie das Vorzeigelager, hier bringen sie syrische Familien hin. Alle andern kommen nach Moria", erklärt Edgard.

Edgard, Helfer auf Lebos. Bild: Fabian Köhler

Auch der 29-jährige Brasilianer wird weder von europäischen, noch von griechischen Behörden für seine Arbeit bezahlt. Eigentlich arbeitet er als Anwalt in Brasilien. "Dann sah ich die Bilder von den Flüchtlingen in Syrien, der Türkei und auf Lesbos, habe alles hinter mir gelassen und bin losgeflogen."

Regelmäßige Mahlzeiten, medizinische Versorgung, trockene Unterkünfte: für alles sind auch hier Freiwillige und Hilfsorganisationen verantwortlich. Nur eine einzige Schlange ist es in Moria wie Kara Tepe, an deren Ende die Flüchtlinge mit Menschen zu tun haben, die von der griechischen Regierung für ihre Arbeit bezahlt werden. Oft tagelang warten die Flüchtlinge auf das Dokument, das ihnen erlaubt, das ersehnte erste Fleckchen Europa endlich wieder verlassen zu dürfen.

Wie Europa auf Lesbos versagt (10 Bilder)

Camp Moria. Bild: Fabian Köhler

Es wird noch einige Tage dauern, bis auch Madi uns seine Familie in der letzten der vielen Warteschlangen auf Lesbos stehen wird. Im Hafen von Mitilini warten die Flüchtlinge vor den Ticketkontrolleuren des Fähranbieters. Zwei Mädchen spielen mit Streichholzschachteln in einer Pfütze ihre Flucht nach. Ein alter Mann röstet Kastanien im brennenden Müll. In einer Ecke des Platzes stehen Freiwillige vor einem "Ärzte ohne Grenzen"-Wohnmobil. Dort finden sich dann doch noch zwei Griechen, die sich hauptamtlich um Flüchtlinge kümmern. Sie tragen rote Basecaps und verkaufen Vodafone-Sim-Karten.

Teil 2: Hunderte Menschen starben in diesem Jahr vor der Küste von Lesbos