Der Kampf gegen das terroristische Mem

Die Geheimdienste versagen, die Politik verkürzt den islamistischen Terrorismus auf ideologisch "vergiftete" Köpfe

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Man könnte beruhigt sein. Jährlich fließen Dutzende von Milliarden US-Dollar in die US-Geheimdienste, denen immer größere Rechte gewährt werden, die Kommunikation und andere Datenspuren weltweit und in den USA zu sammeln und zu analysieren. Im Ausland hat dies die USA nicht weiter befähigt, Konflikte besser vorherzusehen, in diese einzugreifen oder auch wichtige Akteure wie den "Kalifen" al-Baghdadi des IS auszumachen. Und auch im Inland versagt die Überwachung, wenn es zu Anschlägen wie in Boston oder jetzt in San Bernandino kommen kann. Es hat sich offenbar wenig nach 9/11 geändert.

Gerne wird von der großen Macht der Geheimdienste gesprochen, aber deren Ansatz, möglichst alle Daten zu sammeln und zu durchwühlen, um Verdächtiges zu erkennen, scheint nicht wirklich zu funktionieren. Big Data führt zum Overload, zumal dann, wann man nur relativ wahllos nach Nadeln in einem Heuhaufen sucht. Aber prinzipiell kann man nur nach dem suchen, was man bereits kennt.

Ansteckung durch Fernwirkung

Seit einigen Jahren haben sich die islamistischen Terroristen dem schon angepasst und forcieren nun Anschlagspläne von "einsamen Wölfen", obgleich die Attentäter von Paris demonstriert haben, dass selbst bekannte Extremisten, die nach Syrien gereist sind und öffentlich Anschläge angekündigt haben, diese trotz aufgeblähter Sicherheitsorgane und -gesetze wie in Frankreich als Gruppe planen und ausführen können.

Das Paar, das den Anschlag in San Bernandino ausgeführt und 14 Menschen getötet hat, war nicht als Gefährder im Visier der Sicherheitsbehörden gewesen. Seitdem wird die Neigung größer, Muslime unter Generalverdacht zu stellen, was die Suche nach potentiellen Terroristen nicht verfeinert, zumal ein Generalverdacht mit damit einhergehender Diskriminierung nur noch mehr Sympathisanten und Terrorbereite schafft.

We see growing efforts by terrorists to poison the minds of people like the Boston Marathon bombers and the San Bernardino killers.

US-Präsident Obama in der Rede an die Nation

Das Problem ist, dass jeder Ort zum Anschlagsziel werden kann - und dass Menschen, die aus eigenen Antrieben, wenn auch durch Informationen gestärkt, sich radikalisiert haben, plötzlich einen Anschlag ausführen, zumal wenn Waffen einfach zu besorgen sind. "Homegrown" ist das Zauber- oder Angstwort für das neue Risiko, dass Anschläge nicht mehr in Netzwerken ausgebrütet werden, sondern durch Verbreitung eines Mems - ohne persönlichen Kontakt, gewissermaßen eine Ansteckung durch Fernwirkung.

Beschworen wird, dass der Terrorismus sich neu orientiert habe, um die Sicherheitsmaßnahmen auszutricksen, wobei suggeriert wird, dass dieses Wettrüsten erstaunlich sei und man sich darauf noch nicht habe einstellen können, obgleich al-Qaida im Jemen (AQIP) seit Jahren öffentlich für diesen "Open Source Djihad" mit Anleitungen und Vorschlägen wirbt, was der IS nur vor kurzem übernommen hat. So sagte der Heimatschutzminister Jeh Johnson am Samstag:

Wir haben uns in eine vollständig neue Phase der globalen terroristischen Bedrohung und in unseren Sicherheitsmaßnahmen im Heimatschutz bewegt.

Die Terroristen, die natürlich ins Ausland versetzt werden, hätten die Angriffsversuche auf die USA "outgesourct". Das habe man nicht nur in den USA, sondern auch anderswo gesehen: "Das erfordert einen ganz neuen Ansatz."

Die Asymmetrie der Bedrohung und der Reaktion ist rational schwer verständlich

Schon die Bedeutung, die dem IS als Bedrohung für die USA selbst eingeräumt wird, ist die beste Propaganda für diesen. Al-Qaida hatte mit den Anschlägen vom 11. September tatsächlich einen ebenso traumatisierenden wie medial spektakulären Anschlag ausgeübt. Danach wurden in den 14 Jahren bis einschließlich des Massakers in Bernardino durch islamistische Anschläge in den USA 45 Menschen getötet, in der Regel von Menschen, die US-Bürger waren oder schon lange dort gelebt haben, also von "homegrowns" - und das obwohl die USA weiterhin Terroristen oder solche, die sie dafür halten, weltweit jagen und etwa mit Drohnen oder durch Spezialeinheiten töten.

Allein in diesem Jahr wurden bei Massentötungen - mit vier und mehr Toten bei einer Tat - über 460 Menschen getötet, während in den 14 Jahren insgesamt mehr als 200.000 Menschen in den USA ermordet wurden. Tausende kommen jährlich durch Schusswaffen ums Leben. Die Asymmetrie der Bedrohung und der Reaktion ist rational schwer verständlich.

Botschaften technisch in den Griff bekommen

Die Ausbreitung erschweren könnte man nur, wenn das Internet und die Medien grenzüberschreitend gekappt oder effektiv gefiltert/zensiert werden würde. Islamistische Terrorgruppen verbreiten ihre Botschaften und Propaganda zwar über das Internet, aber sie können, was schon immer die Strategie der Propaganda der Tat war, die Medien durch spektakuläre Anschläge und Taten, die als mediale Viren dienen, instrumentalisieren.

Wenn nun die demokratische Senatorin und Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton und US-Präsident Obama glauben, sie könnten die Verbreitung des Mems des radikalisierten Islams durch technische Einschränkungen verhindern, die vor allem auf das Internet abzuzielen scheinen, so entspricht dies eher einem Unbehagen über die dezentrale, digitale Internetkommunikation als einer Lösung und setzt den Glauben fort, dass man alles mit Technik lösen könne.

Clinton sagte, der IS sei der "effektivste Rekrutierer weltweit", womit sie freilich selbst wieder Werbung für die Gruppe macht. Man müsse US-IT-Firmen dazu bringen, so ihre Lösung, Techniken zu entwickeln, mit denen sich "militante Websites, Videos und verschlüsselte Kommunikation" blockieren oder entfernen lassen:

We need to put the great disrupters at work at disrupting ISIS.

Selbst wenn die IT-Firmen mitspielen und wirksame Filtermethoden entwickeln würden, wäre damit das perfekte Instrumentarium für autoritäre Regime geschaffen, aber es müssten eben gleichzeitig tiefe Einschnitte in die Pressefreiheit etwa mit Nachrichtensperren vorgenommen werden.

Überdies scheint, was sich an Obamas Rede an die Nation sehen ließ, der Glaube vorzuherrschen, der islamistische Terrorismus sei lediglich eine Ideologie, die unabhängig von Lebensbedingungen und politischen/gesellschaftlichen Verhältnissen wie ein Virus in den Kopf eindringt und diesen infiziert.

Ursachen und ideologische Kämpfe

Wenn man beim Bild eines Virus bzw. eines Mems bleibt, dann muss aber auch das Immunsystem versagen oder überwunden werden, was in dem Fall besonders erstaunlich ist, weil die Infizierten schnell und auf den ersten Blick wenig egoistisch ihr Leben für den Parasiten der religiösen Ideologie opfern. Warum sind Menschen dafür offen, sich und andere in erweiterten Suiziden für einen wie immer verkauften "Widerstand" und das Versprechen auf einen Gottesstaat und den Eintritt ins Paradies zu opfern? Wie werden Menschen durch welche soziale Bedingungen zu Überflüssigen gemacht, wie erfahren sie sich als Überflüssige?

Selbst verhext durch Ideologie ist der Antiterrorkampf zunehmend auch in Europa zum ideologischen Krieg geworden, was sich auch am Propagandakrieg mit Russland zeigt, während die wirtschaftlichen Bedingungen mit den daraus entspringenden Kämpfen zwischen Schichten, Diskriminierungen, Erfahrungen der Chancenlosigkeit und politischen Verhältnissen im Mittleren Osten wie im Westen kaum eine Rolle spielen.

Man versucht also, die Anhänger des IS in einer bestimmten Region zu eliminieren, wobei sie sich allerdings eben als Nebenwirkung verbreiten, während man mit Überwachung und Zensur die Meme bzw. die Boten abwehren will, aber die Botschaft bzw. die Ursachen belässt. Es ist einfacher und medientauglicher, gegen die Bösen in den Krieg zu ziehen, als eine Strategie dafür zu entwickeln, wie man auf das komplizierte nationale und internationale Geflecht von Gruppen und Interessen im Fall von Syrien einwirken und mit welchen Maßnahmen man den Zwang zu kämpfen, sich unterwerfen zu müssen oder sich vertreiben zu lassen in den Griff kriegen könnte.

Allerdings trifft die Ausrichtung auf den Krieg der Ideologien, nicht der Zivilisationen, wohl insofern zu, weil zumindest Anhänger des islamistischen Terrorismus, die nach Syrien gehen oder hier selbstmörderische Pläne aushecken, gleichwohl nicht nur das Abenteuer suchen, sondern wohl auch eine Utopie, ein Versprechen auf ein besseres, richtiges, sinnerfülltes und regelgeleitetes Leben, das gegen den westlichen Lebensstil und seine Optionen gesetzt wird: "Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod."

Das kann man nicht einfach umdrehen, um zu überzeugen, wie das Obama macht, wenn er von einem "Todeskult" spricht. Während die Islamisten immer mehr an Tod und Grausamkeit und Zerstörung inszenieren, um Aufmerksamkeit zu erzeugen, gibt es auf der anderen Seite vor allem den Zwang und das endlose Versprechen von mehr Geld, mehr Wachstum, mehr Besitz, das in immer größere Ungleichheit führt.