Nahles: 35 % der Flüchtlinge schaffen den Absprung aus Hartz IV

Das Bundesarbeitsministerium rechnet damit, dass mehrere zehntausend anerkannte Asylbewerber im nächsten Jahr einen Job finden

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Bundesarbeitsministerin Nahles revidiert ihre Äußerung von Mitte September. Nach den ersten Wochenende mit bis dato unbekannten Szenen an den Bahnhöfen mit zehntausend ankommenden Flüchtlingen hielt sie den überschwänglichen Reden von hochqualifizierten Arbeitskräften, die mit den Flüchtlingen ins Land kommen, entgegen: "Der syrische Arzt ist nicht der Normalfall."

Erste Auswertungen des Projekts Early Intervention der Bundesagentur für Arbeit (BA), so Nahles am 10. September, hätten gezeigt, dass nicht einmal jeder zehnte Flüchtling direkt in Arbeit oder Ausbildung vermittelt werden konnte (Link auf 45952). Darauf wurde dann als eine Art Richtlinie, die einer realistischen Sicht entsprach, von Berichten wiederholt Bezug genommen.

Jetzt schätzt die SPD-Politikerin die Lage etwas anders ein, wie aus einer Antwort ihres Ministeriums auf eine Anfrage der Grünen hervorgeht. Laut einem SZ-Bericht ergibt sich aus der Antwort des Arbeitsministeriums, dass Nahles im kommenden Jahr, damit rechnet, dass "35 Prozent der Schutzsuchen (…) den Sprung aus der staatlichen Grundsicherung schaffen".

Damit angesprochen ist der Anspruch anerkannter Asylbewerber auf ALG II, wenn sie als Erwerbsfähige keine Stelle haben. Die 35-Prozent-Ansage wird von der FAZ als Umkehrschluss zitiert:

Aufgrund ihrer begrenzten Qualifikation schätzt das Ministerium, dass 65 Prozent zunächst weiter die staatliche Hilfe benötigen. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass 35 Prozent von ihnen - also mehr als 100.000 Menschen - nach einem Jahr kein Hartz IV mehr beziehen, etwa weil sie eine Stelle gefunden, ein Studium aufgenommen oder Deutschland wieder verlassen haben.

Als zugrundeliegende Zahlen erfährt man zweierlei. Einmal die Aufstellung für den Sozialausschuss des Bundestags, die mit 300. 000 bis 350. 000 Flüchtlingen rechnet, die Bleiberecht haben und 2016 erstmals Hartz IV erhalten werden. Dazu wird noch eine weitere Schätzung genannt, nämlich, dass man im Jahresdurchschnitt mit zusätzlich 272.000 Hartz-IV-Empfängern wegen der Flüchtlingskrise rechnet.

Davon gelten 200. 000 als erwerbsfähig, 70. 000 als nicht-erwerbsfähig ("vor allem Kinder"). Der Schluss aus der Gegenüberstellung der beiden Schätzungen:

Gemessen am Zugang von mindestens 300.000 wären somit mehrere 10.000 Erwerbsfähige nicht länger auf Hartz IV angewiesen.

Die Grünen-Politikerin Brigitte Pothmer hält dies für utopisch. Nahles würde mit solchen schönfärberischen Zahlen "den Finanzbedarf, der in ihrem Ressort durch den Flüchtlingszuzug entsteht, in ihrem Haushalt künstlich kleinrechnen".

Unterstützt wird die Ansicht Pothmers etwa durch Zahlen aus der Nürnberger BA, wo man davon ausgeht, "dass sich 2016 etwa zwölf Prozent der geduldeten oder anerkannten Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt integrieren lassen".

Die Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt und die staatliche Unterstützung sowie die Flüchtlingsrechte waren die Hauptgründe, die syrische Flüchtlinge gegenüber der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR für die Wahl des Landes angaben, wo sie Asyl beantragen wollten - vor Familie und sozialen Netzen und Ausbildungsmöglichkeiten.

In der UNHCR-Studie gaben 50 Prozent Deutschland als beliebtestes Zielland an, danach folgte, mit einigem Abstand Schweden (13 %) und Dänemark (5%). Die Niederlande und Österreich gaben gerade mal 4% als Zielland an und Frankreich 0,4 %.

Zu dieser Motivation passt auch, dass die syrischen Flüchtlinge, die zunächst in der Türkei, im Libanon oder in Jordanien waren, ebenfalls die schlechten bis überhaupt nicht existierenden Arbeitsmöglichkeiten als Grund angaben, weshalb sie sich auf den Weg nach Europa gemacht haben.

Die Studie hat allerdings zwei Makel. Sie ist nicht repräsentativ. Mitarbeiter des UNHCR führten 1.245 Interviews mit syrischen Flüchtlingen auf griechischen Inseln. Im Zeitraum von April bis September dieses Jahres waren dort insgesamt etwa 263.000 Syrer gelandet. Die Interviews wurden mit Flüchtlingen auf Lesbos, Samos, Evros, Kos und anderen Inseln geführt, ohne wissenschaftlich exakte Auswahlkriterien.

Es ist gibt Hinweise dafür, dass sich nach dem Durchwink-Ukas Merkels Anfang September ein erweiterter Personenkreis in den Ländern des Nahen Osten angesprochen gefühlt hat, so dass das Profil, dass der UNHCR in seiner Studie von den syrischen Flüchtlingen erstellt, möglicherweise nicht mehr mit dem Profil späterer Flüchtlinge übereinstimmt.

Nach wie vor stimmen dürfte, dass sich die Menschen, die nach Europa aufbrechen, die besten Arbeitsbedingungen, die beste staatliche Unterstützung und die besten rechtlichen Rahmenbedingungen in Deutschland erwarten. Die Mehrheit der von der UNHCR Befragten waren Männer (81Prozent), zwei Drittel im Alter zwischen 18 und 35, meist aus Damaskus und Aleppo, überwiegend Araber (86%), ungefähr derselbe Prozentsatz Sunniten.