Wikipedia: Zu groß, um zu überleben?

Jimmy Wales und die strukturellen Probleme seines nunmehr monopolistischen Online-Lexikons. Wie sich Wirtschaft und Politik bei Wikipedia eingekauft haben. Teil 2

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Es war kein geradliniger Weg, auf dem James Donal Wales zum allseits bewunderten Inspirator des Mitmach-Lexikons Wikipedia aufgestiegen ist.

Dem Wirtschaftsstudium folgte eine Karriere als Börsenspekulant in Chicago, um sodann die mehr oder minder erfolgreiche Internetsuchmaschine Bomis zu gründen. Gesucht wurden für eine männliche Kundschaft pornographische Inhalte aus dem Internet. Zusammen mit Larry Sanger konzipierte Wales sodann die Online-Enzyklopädie Nupedia, aus der alsbald das Mitmach-Lexikon Wikipedia hervorging (siehe dazu Teil 1 Jimmy Wales: eine Ikone mit Schönheitsfehlern).

Nach der Gründung der Wikimedia Foundation als Trägergesellschaft von Wikipedia konnte Wales die anrüchige Pornosuchfirma Bomis liquidieren. Inspiriert wurde Wales zu seiner für alle offenen Enzyklopädie durch die Preistheorie des Ökonomen Friedrich von Hayek aus der ökonomischen Wiener Schule.

Doch Wales ist auch noch als so genannter "Sozialunternehmer" integraler Bestandteil der marktradikalen Revolution. Wales hat sich nämlich als "Fellow" bei der Ashoka-Stiftung in die Weihen des Sozialunternehmertums einweisen lassen.

Die Ashoka Foundation arbeitet weltweit und wird finanziert u.a. von der Consultant-Firma McKinsey. Es geht darum, soziale Einrichtungen zu etablieren, die im Gegensatz zum traditionellen System der öffentlichen Sozialträger komplett privatwirtschaftlich auf die Erzielung von Profit hin organisiert sind.

Die Profite sollen dann wiederum in die Finanzierung sozialer Projekte fließen. Das Motto der deutschen Ashoka Filiale lautet: Deutschland, Heimat der Changemaker. Das hat auch etwas mit dem Change-Management zu tun, mit dem Betriebe umgekrempelt werden.

Ist die Online-Enzyklopädie wirklich so basisdemokratisch, ehrlich und offen für alle?

Was hier im Gewand der selbstlosen Wohltätigkeit daherkommt, zielt darauf ab, den Sozial- und Gesundheitsbereich dem Profitprinzip zu öffnen. Schon jetzt werden öffentliche Sozialeinrichtungen in GmbHs umgewandelt. Ist erst einmal die profitorientierte Betriebswirtschaftslogik implantiert, ist der Weg zur Börse konzeptionell bereits vorgezeichnet. Die beiden prominentesten Ashoka-Zöglinge sind Mohammad Yunus, der Erfinder der Mikrokredite und Nobelpreisträger aus Bangladesh, sowie - Jimmy Wales.

Wikipedia-Logo: Wikimedia Foundation, Lizenz: CC-BY-SA-3.0. Illustration: TP

Der Change, den Wales in der Wissenslandschaft vollbracht hat, ist imponierend: Wikipedia ist mittlerweile de facto Monopolist unter den Lexika. Das hat es geschafft durch die Motivierung von Millionen Menschen weltweit zur kollektiven Wissensansammlung über Wikipedia. Doch ist die Online-Enzyklopädie wirklich so basisdemokratisch, ehrlich und offen für alle, wie es die Philosophie von Wales vorgibt?

Es gibt strukturelle Schwächen, die sowohl den Marktradikalismus als auch die Wikipedia-Philosophie auszeichnen: Hayek und seine Mitstreiter blenden mit schöner Regelmäßigkeit aus, dass gerade die vollkommen unregulierte Volkswirtschaft immer wieder geradewegs in die Bildung von Konzernen und Kartellen mündet, die exakt jenen freien Wettbewerb abtöten, den die Propheten des freien Marktes zu schaffen vorgeben. Derselbe Mechanismus pervertiert die hehren Grundsätze einer optimalen Ermittlung der Wahrheit durch Wissensaushandlungsprozesse bei Wikipedia.

Richtungskampf zwischen Befreiungsideologie und Produktideologie

Der Medienwissenschaftler Christian Stegbauer hat darauf hingewiesen, dass hinter den Kulissen von Wikipedia ein Richtungskampf tobt zwischen einer "Befreiungsideologie" und einer "Produktideologie". Längst hat ein Ringen um Professionalisierung die ursprüngliche Idee einer freien Wissensaushandlung an den Rand gedrängt.

Marius Beyersdorff hat in seiner Doktorarbeit 1 anhand der Entstehungsgeschichte des deutschen Wikipedia-Artikels über Homöopathie nachweisen können, dass sich in der durchaus strengen Hierarchie in der Online-Enzyklopädie mittlerweile nicht das bessere Argument durchsetzt.

Entscheidend ist vielmehr die meritokratische 2 Macht, die sich ein "Sichter" oder "Administrator" im Laufe der Jahre erkämpft hat, die über die Richtigkeit und Wahrheit eines Artikels entscheidet. In einem teilweise rüden und vulgären Ton setzen Alphatiere in der Wiki-Hackordnung ihre Meinung gegen Außenseiter durch. Auch hier ist also quasi ein Trend zur Machtkonzentration und Monopolisierung festzustellen.

Durch die Wiki-Regeln ist jeder Mitarbeiter des Kollektivlexikons eigentlich zur Neutralität verpflichtet. Schon lange jedoch werden Personen oder ganze Themenkomplexe wie die Naturheilkunde vollkommen ungeniert verunglimpft. Der erste Sündenfall dieser Art ereignete sich bereits in der Frühzeit von Wikipedia in den USA. Der frühere persönliche Assistent von Robert Kennedy, John Seigenthaler, wurde in einem Wiki-Artikel verdächtigt, an den Morden an beiden Kennedy-Brüdern beteiligt gewesen zu sein.