"Die Finanzkrise hat Deutschland genutzt"

Guillaume Duval, Chefredakteur der Alternatives Economiques und Autor von "Modell Deutschland? Nein Danke!", über die deutsche Dominanz in Europa und die Zukunft des Euros

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Operation geglückt, Patient tot? Im erbitterten Streit um Griechenlands Staatsschulden konnte Deutschland sich zwar durchsetzen, aber die Reaktion der europäischen Öffentlichkeit war verheerend. "Die deutsche Regierung hat einem kleinen Mitgliedsland Bedingungen aufgezwungen, die früher nur mit Waffengewalt hätten durchgesetzt werden können", kommentierte damals die konservative französische Tageszeitung Le Figaro. So oder ähnlich lautete auch der Tenor der Kommentare aus London, Madrid, Lissabon oder Warschau. Seitdem zeigt sich die Europäische Union zunehmend als entscheidungs- und handlungsunfähig. In Anspielung auf das Bundesfinanzministerium erklärte kürzlich Martin Schulz, der Präsident des Europäischen Parlaments: "Die harte Haltung mancher europäischer Regierungen in der Flüchtlingskrise ist eine Retourkutsche an gewisse Leute in der Berliner Wilhelmstraße." Wichtige wirtschaftliche und steuerpolitische Projekte wie die Bankunion oder die Finanztransaktionssteuer kommen nicht voran. Die mühsam von der europäischen Diplomatie ausgehandelten Kompromisse klingen immer formelhafter.

Die europäische Vereinigung und der Euro sind in der Krise - aber warum? Fehlt es den anderen Euro-Ländern an der nötigen "Haushaltsdisziplin", um ihre Währung mit Deutschland zu teilen? Worauf beruht die Macht der Deutschen in der Europäischen Union? Dazu hat Telepolis Experten aus Ungarn, Frankreich, Italien, Großbritannien und auch Deutschland befragt.

Guillaume Duval ist Chefredakteur der Monatszeitschrift Alternatives Economiques und Autor von "Modell Deutschland? Nein Danke!", in dem er die deutsche und französische Wirtschaft miteinander vergleicht. Er hat lange in Deutschland gelebt und für deutsche Firmen als Ingenieur gearbeitet.

Der Front National (FN) hat bei den Regionalwahlen Anfang Dezember seinen bisher größten Erfolg errungen, auch wenn er letztlich in keiner Region Ämter gewinnen konnte. Hat Sie das überrascht? Schockiert?

Guillaume Duval: Überrascht hat mich das Ergebnis nicht, schockiert schon. Ich kann die Gründe für den Triumph der Rechten allerdings nachvollziehen. Die soziale Lage in Frankreich ist schlecht. Seit dreißig Jahren sind die verschiedenen Regierungen nicht in der Lage, die Arbeitslosigkeit zu senken. Insbesondere die sogenannten einfachen Leuten und Teile der Arbeiterschaft haben deshalb Sympathien für den FN. Die linken Parteien sind dagegen keine Arbeiterparteien, sondern werden von urbanen Akademikern geprägt. Die Menschen auf dem Land und den armen Vororten fühlen sich von denen verlassen.

In der Berichterstattung hierzulande wird der Wahlerfolg der FN fast ausschließlich auf die Flüchtlingsproblematik und die islamistischen Anschläge zurückgeführt. Welche Rolle haben sie gespielt?

Guillaume Duval: In Frankreich gibt es keine "Flüchtlingskrise", die Zahl der Zuwanderungen ist mehr oder weniger gleichgeblieben. Das Thema hat denn auch im Wahlkampf keine große Rolle gespielt. Die Terroranschläge schon eher, aber seit den Anschlägen sind die Umfragewerte der Rechtsextremen nur unwesentlich nach oben gegangen, von 23 Prozent auf 26 Prozent. Nein, der Erfolg des FN war seit langem abzusehen und hat langfristige Ursachen.

Welche Rolle spielt dabei, dass die Nationalisten des FN die EU ablehnen?

Guillaume Duval: Das ist ein wesentlicher Grund für ihren Erfolg. Die Mehrheit der Franzosen hat den Eindruck, dass der Euro und die EU die sozialen Probleme im Land nicht lösen, sondern schlimmer machen. Die Rechtsextremen haben unter anderem damit gepunktet, dass sie das Ausscheiden aus dem Euro gefordert haben. Um in der konservativen Wählerschaft besser anzukommen, vor allem um die Unternehmer nicht abzuschrecken, haben sie ihre europapolitischen Forderungen in den letzten Monaten allerdings etwas abgemildert. Sie werfen dem politischen Establishment vor, die französischen Interessen nicht gegen Merkel zu verteidigen und inszenieren sich so mit Erfolg als der eigentliche Erbe der gaullistischen Bewegung, als die Verteidiger der nationalen Sache. Die Konservativen unter Sarkozy dagegen haben die patriotische gaullistische Phraseologie weitgehend aufgegeben. Das gilt gerade in der Europa-Politik, beispielsweise haben sie den Stabilitätspakt ohne Murren akzeptiert.

Die Kritik am Euro und an der EU scheint in Frankreich auf der Linken wie der Rechten stärker zu werden ...

Guillaume Duval: Ja, aber die europakritische Linke ist mittlerweile so sehr geschwächt, dass sie keine nennenswerte Rolle mehr spielt. Die Kritik an Europa artikuliert sich rechtsextrem.

"Deutschland gilt als imperialistisch, aggressiv und bedrohlich, als eine Gefahr für Frankreich"

Wie hat sich die Wahrnehmung Deutschlands und die der deutschen Rolle in Europa seit den Verhandlungen um die griechischen Staatsschulden verändert?

Guillaume Duval: Das war ein entscheidender Moment. Die antieuropäische Haltung in der Bevölkerung ist seitdem deutlich stärker geworden. Deutschland gilt allgemein als imperialistisch, aggressiv und bedrohlich, als eine Gefahr für Frankreich. Besonders die Kampagne der Bild-Zeitung gegen "neue Milliarden für gierige Griechen" hat viel Unbehagen ausgelöst. Ich selbst versuche darauf hinzuweisen, dass so etwas nicht die Haltung aller Deutschen entspricht, wenn mir solche Ressentiments begegnen. Mir scheint, dass die Deutschen diese Stimmung im Ausland gar nicht wahrnehmen.

In Ihrem Buch über das "Modell Deutschland" haben Sie die Schwächen und Stärken der französischen und deutschen Wirtschaft verglichen. Gerade seit der Eurokrise ist immer öfter zu hören und zu lesen, andere Länder sollten das deutsche Erfolgsrezept übernehmen. Manfred Kauder beispielsweise, der Chef der konservativen Bundestagsfraktion, erklärte im Jahr 2011 stolz: "Jetzt wird in Europa Deutsch gesprochen." Gemeint sind damit Lohnzurückhaltung, eine sparsame Haushaltspolitik und Schuldenabbau. Was sagen Sie dazu - sollte Europa Deutsch lernen?

Guillaume Duval: Diese dumme Idee hat sich leider in Deutschland und in ganz Europa verbreitet. Sie ist völlig falsch: Die wirklichen Ursachen für das deutsche Wirtschaftswachstum sind eine geringe Geburtenrate, nur langsam steigende Immobilienpreise und die Ausdehnung der deutschen Industrie nach Osten.

Um eine lange Geschichte kurz zu machen: Die Deutschen kriegen kaum Kinder, im Gegensatz zu den Franzosen. Nachwuchs kostet aber bekanntlich Geld, weil ihre Eltern die Kinder mit Mobiltelefonen und Markenklamotten und allem anderen versorgen müssen. Entscheidend ist dabei, dass die Eltern und der Staat die Ausbildung finanzieren. Bezogen aufs Bruttoinlandsprodukt gibt Deutschland ein Prozent weniger für die Schulbildung aus als Frankreich. Die demographische Entwicklung in Deutschland ist kurzfristig vorteilhaft. Sie hat unter anderem dazu geführt, dass die Immobilienpreise in Deutschland nur moderat gestiegen sind. Der Durchschnittswert von Wohneigentum in Frankreich ist dreimal höher als in Deutschland.

Weniger Kinder und billigerer Wohnraum haben es den Deutschen möglich gemacht, sich mit den stagnierenden Löhnen zu arrangieren. Die französischen Lohnkosten sind zwar keineswegs explodiert, aber im Vergleich zu den deutschen sind sie immerhin gestiegen, was natürlich einen Konkurrenzvorteil für die deutschen Unternehmen bedeutet.

Der dritte Grund ist die Ausdehnung nach Osten. Ganz im Gegensatz zu einer landläufigen Meinung hat Deutschland die Wiedervereinigung genutzt, weil sie den westdeutschen Unternehmen neue Märkte erschlossen hat. Nebenbei bemerkt, deren neue Standorte in den neuen Bundesländern wurden oft mit EU-Subventionen gefördert. Auf der Grundlage dieses Heimatmarktes dehnte die deutsche Industrie dann sowohl ihre Fertigung, als auch ihren Export nach Osteuropa aus.

Deutschland exportiert zweieinhalbmal mehr als Frankreich, aber es importiert auch zweimal mehr, besonders aus Osteuropa, etwa aus Polen oder der Tschechischen Republik. Das zeigt, wie eng die deutsche Industrie mit dem östlichen Europa verbunden ist. Die Unternehmen profitieren von den geringen osteuropäischen Löhnen. Die Lohnhöhe ist zwar in Polen zuletzt deutlich gestiegen, aber sie beträgt immer noch nur ein Zehntel des französischen Niveaus. Wenn die deutsche Industrie ihre Vorprodukte also in Polen anstatt in Frankreich herstellen lässt, hat sie auf dem Weltmarkt einen gewaltigen Preisvorteil.

Und schließlich hat die Industrialisierung der Schwellenländer, allen voran Chinas, dem deutschen Maschinenbau ermöglicht, massenhaft seine Waren abzusetzen Frankreich dagegen kann nur Kernkraftwerke bauen, die keiner mehr haben will.

Nun musste die deutsche Bevölkerung wegen der Arbeitsmarktreformen unter Kanzler Gerhard Schröder doch durchaus den Gürtel enger schnallen. Kurbeln solche Kürzungen und sinkende Löhne etwa nicht die Wirtschaft an?

Guillaume Duval: Die Deutschen sind merkwürdigerweise trotz der wachsenden Armut und Ungleichheit davon überzeugt, ihre ökonomische Stärke verdanke sich der Agenda 2010. Ich behaupte, die deutschen Unternehmen waren trotz der Schröder-Reformen und den Hartz-Gesetzen so erfolgreich, nicht wegen ihnen. Deutschland konnte außerdem diesen Weg nur deshalb gehen, weil es Länder gab, die sich im selben Zeitraum verschuldet haben, um deutsche Waren zu kaufen. Ansonsten wären die Folgen für Deutschland und für Europa insgesamt noch schlimmer gewesen.

Wenn alle Länder auf sinkende Löhne setzen, passiert, was wir gerade erleben: Europa steht am Rande einer Rezession und Deflation, die Arbeitslosigkeit bleibt hoch. Die Eurozone hat zur Zeit einen Exportüberschuss von 250 Milliarden Euro, 2,5 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt. Das bedeutet, die Eurozone könnte 250 Milliarden Euro mehr investieren und konsumieren.

Nun wird die Eurozone doch in gewissem Sinne tatsächlich "deutscher", weil Deutschland die restriktive Haushaltspolitik und die Exportorientierung sozusagen exportiert. Mittlerweile erzielen auch Portugal, Spanien, Italien und sogar Griechenland einen Überschuss in der Handelsbilanz; diese Länder verkaufen also mehr auf dem Weltmarkt als sie einführen.

Guillaume Duval: Das wird nicht lange gut gehen. Wie gesagt, wir stehen am Rand einer Deflation. In dieser Situation die Staatsausgaben zu senken, ist kontraproduktiv, übrigens auch um die Staatsschulden abzubauen.

"Wenn Wolfgang Schäuble wirklich ein Europa ohne Frankreich und Italien will, ist er auf dem besten Weg"

Es scheint, als könnten sich die Deutschen zumindest in allen entscheidenden wirtschaftspolitischen Fragen durchsetzen. In einem Interview mit der Zeitung Libération hat sich Wolfgang Schäuble im September gegen den Vorwurf verwahrt, die Deutschen hätten mit ihrer Grexit-Drohung den Griechen die Bedingungen für die Finanzhilfen diktiert. Wörtlich sagte er: "Die 18 Finanzminister der Eurozone, wenn man den griechischen Minister nicht mitzählt, waren sich einig, dass Griechenland den Bedingungen des Hilfspakets zustimmen sollte. 15 Finanzminister waren für ein zeitweiliges Verlassen des Euros. Nur der französische, italienische und zypriotische Minister standen nicht auf diesem Standpunkt."

Guillaume Duval: Ja, wenn Schäuble ein Europa ohne Frankreich und Italien will, dann ist er auf dem besten Weg! Für den Verlauf der Griechenland-Verhandlungen gibt es einfache parteipolitische Gründe: Niemand hatte Interesse daran, einer nicht-sozialdemokratische Regierung wie der von Alexis Tsipras einen solchen politischen Erfolg zu erlauben. Für Sozialdemokraten wie Matteo Renzi oder Franois Hollande wäre das politisch noch verheerender gewesen als für eine Konservative wie Angela Merkel. Deshalb haben sich die französische und italienische Regierung kaum gerührt und stattdessen Wolfgang Schäuble freie Hand gelassen, so dass er mit dem Grexit drohen konnte.

Im Sommer hat der französische Finanzminister Emanuelle Macrons eine gemeinsame "Wirtschaftsregierung" und ein "Finanzministerium der Eurozone" gefordert. Wie beurteilen Sie diese Initiative?

Guillaume Duval: Seit dreißig Jahren stellen französische Regierungen solche Forderungen. Der Vorschlag von Macron und Hollande geht in die richtige Richtung, aber es fehlen der Mut und die Entschlossenheit, sich wirklich mit den Deutschen anzulegen. Es fehlt der Wille. Eben deshalb glauben immer mehr Franzosen, dass die Eurozone nicht reformiert werden kann. Im Prinzip geht Macrons Vorschlag aber in die richtige Richtung. Ich habe zusammen mit Thomas Picketty und anderen einen Appell veröffentlicht, in dem wir ein Parlament für die Eurozone fordern, das zum Beispiel aus Abgeordneten der nationalen Parlamente bestehen könnte. Wir brauchen eine demokratische Legitimation auf europäischer Ebene, um die ordoliberale Blockade zu überwinden.

"Wir brauchen eine demokratisch legitimierte gemeinsame Wirtschaftspolitik im Euroraum"

Was meinen Sie damit?

Guillaume Duval: Wir haben die Eurozone auf ordoliberalen Ideen aufgebaut. Wenn wir uns alle an die Spielregeln halten, so die Idee, wird das unsere Probleme lösen. Gerade die Deutschen führen die Eurokrise darauf zurück, dass sich die Anderen nicht an Regeln wie die Defizitobergrenzen gehalten haben und fordern deshalb als Lehre aus der Vergangenheit mehr Regeln und mehr Kontrollen und mehr Sanktionen.

Zunächst einmal stimmt diese Version historisch nicht. Irland und Spanien haben bis zur Finanzkrise den Stabilitätspakt befolgt und hatten sehr geringe Staatsschulden, während Deutschland und Frankreich gegen seine Regeln verstoßen haben. Das grundsätzliche Problem ist, dass wegen der gemeinsamen Währung unsere Wirtschaften mittlerweile so sehr verflochten sind, dass sie nicht mehr mit einfachen Regeln gesteuert werden können. Wir brauchen eine flexible Fiskalpolitik, die das Defizit für das jeweilige Jahr neu festsetzt, entsprechend der Situation.

Das Problem ist nur, wenn unser französischer Präsident sagt: "Nun gut, dieses Jahr lege ich die Verschuldung auf zwei Prozent fest!", dann ist die Sache entschieden und erledigt. Wenn er die Zeit dafür findet, informiert er vielleicht noch das Parlament. In anderen Ländern dagegen müssen die Regierungen auf die Parlamente Rücksicht nehmen, etwa in Deutschland, wo Merkel in der Eurokrise die Entscheidungen auch gebremst hat, weil sie Mehrheiten im Bundestag organisieren muss. Daher brauchen wir eine demokratisch legitimierte Wirtschaftspolitik im Euroraum.

Die Bundesregierung hat den Vorschlag Ihres Finanzministers freundlich zur Kenntnis genommen und in der Schublade verschwinden lassen. Sie hat es offensichtlich alles andere als eilig. Bis Ende 2016 will sie Vorschläge unterbreiten, wie die Wirtschafts- und Währungsunion weiter entwickelt werden kann. Entspricht dieser Ablauf nicht einem üblichen Muster? Frankreich macht sich für eine weitergehende Integration stark, um die deutsche Macht sozusagen einzuhegen, und Deutschland bedankt sich unverbindlich für die interessante Idee.

Guillaume Duval: Sicher, aber so fährt Europa gegen die Wand. Die Vereinigung Europas hat Deutschland eine stärkere politische und wirtschaftliche Rolle zugewiesen, eine führende Rolle. Deutschland will diese führende Rolle aber gerade nicht spielen. Die deutsche Öffentlichkeit und Regierung sind immer noch der Meinung, ihre einzige Verantwortung bestehe darin, die eigenen Interessen zu erreichen, ohne Rücksicht auf das Ganze. Natürlich verstehe ich, woher diese Zurückhaltung kommt: Das letzte Mal, als Deutschland eine Führungsrolle in Europa übernehmen wollte, führte das bekanntlich in eine Katastrophe.

Nun hat gerade die Überzeugung, dass eine europaweite "Transferunion" auf jeden Fall verhindert muss, die Partei "Alternative für Deutschland" stark gemacht. Diese Haltung reicht in eigentlich in alle politischen Lager Deutschlands. Andererseits, behaupten Sie, dass ohne einen finanziellen Ausgleich zwischen den Gewinnern und Verlieren des Wettbewerbs Europa zerbrechen wird. Gibt es überhaupt einen Ausweg aus dieser Sackgasse?

Guillaume Duval: Irgendwann muss Ihre Öffentlichkeit begreifen: Die Krise hat einen gigantischen Transfer von Wohlstand nach Deutschland erzeugt. Sie hat Deutschland genutzt, nicht geschadet! Der Staat hat beispielsweise massiv von der Flucht des Kapitals in den sicheren deutschen Hafen profitiert. Für seine Staatsanleihen muss er keine Zinsen mehr bezahlen. Ich habe einmal nachgerechnet, was passiert wäre, wenn die Bundesrepublik den Zinssatz für Staatsanleihen im Jahr 2008 bezahlt hätte. Dann wären bis einschließlich des Jahres 2018 ungefähr 193 Milliarden Euro zusätzlich fällig gewesen.

Die Krise nutzt noch in weiterer Hinsicht: Wenn junge Italiener, Spanier und Portugiesen einwandern, lösen sie das demographische Problem des Landes, ohne dass es nur einen Cent kostet. Um einen Menschen bis zu seinem 20. Lebensjahr zu versorgen und auszubilden, sind nach verschiedenen Berechnungen insgesamt etwa 200.000 Euro nötig. Die Zuwanderung ist eine gigantische Umverteilung von den Randstaaten hin zu Deutschland. Ohne finanzielle Transfers werden die Länder der Eurozone immer weiter auseinandertreiben, und schließlich wird die Union zerbrechen.

Also kein Ausweg aus der Sackgasse, in der Europa sich befindet?

Guillaume Duval: Ich weiß es nicht. Makroökonomische Argumente werden die deutsche Öffentlichkeit jedenfalls bestimmt nicht überzeugen. Deshalb plädiere ich dafür, den nötigen Finanztransfer mit einer europaweiten Energiewende oder der Flüchtlingskrise zu begründen. Wenn die Deutschen wollen, dass mehr Einwanderer in Italien oder Griechenland bleiben, sollen sie eben dafür zahlen.

Ich möchte betonen, dass die Lage in Frankreich durchaus ernst ist. Wenn es bei den Präsidentschaftswahlen 2017 zu einem Duell zwischen François Hollande und Marine Le Pen kommt, bin ich überhaupt nicht sicher, wer gewinnen wird. Im schlimmsten Fall wird es der Front National sein, der den Euro abwickelt.

Teil 2: "Der Euro-Beitritt Italiens war ein Fehler": Die italienische Wirtschaftswissenschaftlerin Annamaria Simonazzi über die deutsche Dominanz in Europa und die Zukunft des Euros.