Fukushima: Nuklearer Albtraum in Zeitlupe

Neue Studie zeigt deutlich erhöhte Inzidenz von Schilddrüsenkrebs bei Kindern - Ärztliche Friedensorganisation erwartet tausende zusätzliche Krebserkrankungen

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Trotz systematischer Vertuschung, Verharmlosung und Verdrängung beginnen sich nach fast fünf Jahren die gesundheitlichen Folgen der dreifachen Kernschmelze im TEPCO Daiichi Kernkraftwerk im japanischen Fukushima abzuzeichnen.

Großangelegte epidemiologische Studien der letzten 15 Jahre haben unser Verständnis von biologischen Effekten durch ionisierende Strahlung grundlegend verändert.

Der Kinderarzt und stellvertretende Vorsitzende des Vereins Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) in Deutschland, Dr. med. Alex Rosen, erläutert:

Die Datenlage ist mittlerweile erdrückend, es gibt keinen Schwellenwert, unterhalb dessen Strahlung unwirksam wäre. Schon im Niedrigdosisbereich in der Größenordnung von 1 Millisievert (mSv) erhöht radioaktive Strahlung nachweislich das Erkrankungsrisiko. Die in Fukushima aufgestellte Behauptung, dass selbst Strahlendosen von bis zu 100 mSv keine messbaren gesundheitlichen Folgen haben würden, ist deshalb wissenschaftlich unhaltbar.

So veröffentlichten Australische Forscher 2013 eine Analyse von über 10 Millionen Patientendaten in der angesehenen Fachzeitschrift "British Medical Journal" (BMJ), die eine Erhöhung des Krebsrisikos um ca. 24% durch eine einzige computertomographische (CT) Untersuchung (durchschnittliche Strahlendosis 4,5 mSv) zeigte.

Jedes weitere CT ließ das Risiko um zusätzliche 16% steigen, bei Kindern war der Effekt sogar noch ausgeprägter. Erst im Vorjahr hatten britische Wissenschaftler ähnliche Ergebnisse in der Zeitschrift "The Lancet" publiziert.

Die Ärzteschaft ist daher bemüht, diagnostisches Röntgen und nuklearmedizinische Untersuchungen auf das notwendige Maß zu reduzieren, möglichst strahlungsarme CT-Geräte nur bei strenger Indikationsstellung einzusetzen, und stattdessen auf Magnetresonanztomographie (MRT) oder Ultraschalluntersuchungen zurückzugreifen.

Darüber hinaus wird neuerdings empfohlen, Frauen mit einem genetischen Brustkrebsrisiko nicht in ein röntgenbasiertes Screening einzubeziehen.

Auch unter Ärzten gibt es durchaus Verbesserungsbedarf in puncto Bewusstsein für strahlen-assoziierte Risiken in der medizinischen Bildgebung.

Wenn es aber um die Aktivitäten der Atomindustrie und deren Folgen geht, klaffen Welten zwischen öffentlicher Wahrnehmung und Wirklichkeit.

Systematische Vertuschung der Schäden durch interne und externe radioaktive Kontamination

Dank der Zusammenarbeit von Atomlobbyisten, Regierungsstellen und industrienahen Institutionen mit vertrauensvoll klingenden Akronymen liegen der Öffentlichkeit kaum verlässliche Zahlen vor, die eine Abschätzung der bestehenden und zu erwartenden Schäden an Gesundheit und Natur ermöglichen würden.

Das Motto scheint zu lauten: Daten, die gar nicht erst erhoben werden, müssen später nicht vertuscht werden.

Um unliebsame, bereits erhobene Daten zum Staatsgeheimnis erklären zu können, erließ Premierminister Shinzo Abe im vergangenen Jahr zudem ein Geheimhaltungsgesetz.

Vertuschung beginnt bereits mit den amtlichen Mess-Stationen, die die Umgebungsstrahlung systematisch herunterrechnen.

"Über 80 Prozent der 3.141 offiziellen Messstationen zeigen zu geringe Ortsdosis-Werte an, häufig nur die Hälfte bis zu zwei Drittel des wahren Wertes", berichtet der Umweltjournalist Alexander Neureuter in seinem Buch Fukushima 360° über seine Recherchen vor Ort.

Dosimeter im Beet in Koriyama, Präfektur Fukushima. Foto: Alexander Tetsch / www.tetsch.eu

Das japanische Umweltministerium hat eingeräumt, dass seine Geräte einen Konstruktionsfehler aufweisen: Um den Messsensor des Geräts herum wurden Blei-Akkus zur Gewährleistung einer unterbrechungsfreien Stromversorgung angeordnet. Blei jedoch ist eines der für Strahlung undurchdringlichsten Materialien.

Das wesentliche Hindernis bei der Aufklärung der Weltöffentlichkeit ist das Fehlen (mindestens) einer unabhängigen, internationalen Einrichtung, die Erhebung, Analyse und Bewertung der wissenschaftlichen Daten verantwortungsvoll beaufsichtigen würde.

Eigentlich sollte man meinen, im Ausschusses zur Untersuchung der Auswirkungen atomarer Strahlung der Vereinten Nationen (UNSCEAR) genau dieses Organ gefunden zu haben. Die Realität sieht leider anders aus.

Die deutsche Sektion der internationalen ärztlichen Friedensorganisation IPPNW hat den aktuellen UNSCEAR-Bericht von 2014 einer fachlichen Analyse unterzogen.

Anhand der im Bericht genannten Emissionswerte und Grundannahmen zu äußerer und innerer Kontamination der Bevölkerung berechnete die IPPNW, dass bis zu 16.000 zusätzliche Krebserkrankungen und bis zu 9.000 zusätzliche Krebstodesfälle zu erwarten sind.

Die Ärzteorganisation geht davon aus, dass die tatsächlichen Zahlen weitaus höher liegen dürften, da die im UNSCEAR-Bericht aufgeführten Emissionswerte ausschließlich auf Angaben der japanischen Atomenergiebehörde beruhen und deutlich höhere Angaben unabhängiger Institute unberücksichtigt lassen.

Auf der Grundlage der IPPNW Kritik des UNSCEAR-Berichts zur Folge der atomaren Katastrophe von Fukushima forderten im vergangenen Jahr 40 Nichtregierungsorganisationen aus neun Ländern im Rahmen eines offenen Brief an die UN eine Korrektur des Berichts. Darin heißt es:

"Wir wissen die erheblichen Bemühungen der UNSCEAR-Ausschussmitglieder zu schätzen, die die umfangreichen und komplexen Daten der Atomkatastrophe von Fukushima ausgewertet haben. Trotzdem ist ihre Schlussfolgerung, dass es 'keine erkennbaren Folgen' gibt, weder jetzt noch in der Zukunft mit gesundem Menschenverstand nachvollziehbar und untergräbt die Glaubwürdigkeit von UNSCEAR."

Selbst der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages griff die Kritik auf.

Die IPPNW-Analyse der 2013 von der WHO veröffentlichten Angaben unter Verwendung des sog. Kollektivdosiskonzepts ergab sogar Vorhersagen von zusätzlich bis zu 80.000 Krebsfällen durch Einwirkung ionisierende Strahlung von außen, sowie weiteren 18.000 bis 23.000 durch Aufnahme kontaminierter Nahrung.

Die Diskrepanz zwischen den Prognosen anhand der selben Zahlen von "alles im grünen Bereich" bis "mehr als 100.000 bösartige Erkrankungen bis 2050" ist enorm.

Eine der Hauptursachen ist das Festhalten der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP) an den Hiroshima-Nagasaki-Studien aus den 1950er Jahren als Referenz für die Ableitung von Risikofaktoren.

Nicht nur die UNO, sondern auch die Internationale Atomenergie Organisation (IAEA) und selbst die Weltgesundheitsorganisation (WHO) verwenden weiterhin das alte Modell, obwohl es aus wissenschaftlicher Sicht nicht nur überholt ist, sondern schwerwiegende, grundlegende Mängel aufweist.

Keine der genannten Institutionen agiert unabhängig von der Einflussnahme durch die Atomindustrie und diversen politischen Überlegungen.

So wurde bekannt, dass das japanische Außenministerium im vergangenen Jahr 71.000.000 Yen (ca. 483.000 Euro) an den UNSCEAR- Ausschuss gezahlt hat, um die Bevölkerung in Fukushima industrie- und regierungsfreundlich zu informieren und "überflüssige Sorgen bezüglich Strahlenfolgen zu beseitigen".

Röntgenbilder beim Schuhkauf waren früher beliebt, man unterschätzte die Gesundheitsgefahr

"Den Menschen in Fukushima ist mit solchen falschen Versprechungen nicht geholfen. Sie erwarten objektive Informationen, medizinische Unterstützung und, am allermeisten, die Anerkennung ihres unantastbaren Menschenrechts auf Gesundheit und das Leben in einer gesunden Umwelt. Dies sollte das Leitprinzip für die Evaluation gesundheitlicher Folgen in Fukushima sein; nicht die Interessen von Wirtschaft und Politik," so Dr. Alex Rosen, Vorstandsmitglied der deutschen IPPNW und Koautor der IPPNW-Kritik des UNSCEAR-Berichts.

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