Merkel allein im europäischen Haus

Der Zerfall des "Deutschen Europa" schreitet angesichts des zunehmenden Nationalismus rasant voran

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In den Führungsreigen der deutschen Sozialdemokratie scheinen manche Spitzenpolitiker inzwischen die Nerven zu verlieren. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) hat schon Ende November den Schuldigen für die "Spaltung Europas" in der gegenwärtigen Flüchtlingskrise benannt. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble habe mit seiner gnadenlosen Machtpolitik in der Eurokrise viel böses Blut geschaffen, sodass nun viele Eurostaaten auf Revanche aus seien. Deutschland erhalte in der Flüchtlingskrise "die Quittung" für die Politik Berlins in der Eurokrise: Damals habe man in Deutschland "mächtig die Muskeln spielen lassen", erinnerte sich Schulz, und Schäuble sei "ganz scharf" darauf gewesen, "den anderen einzuhämmern, sich ein Beispiel am deutschen Modell zu nehmen".

Beim jüngsten SPD-Parteitag attackierte nun auch der SPD-Vorsitzende Siegmar Gabriel Mitte Dezember die europäische Sparpolitik von Kanzlerin Angela Merkel, die er für das Erstarken rechtspopulistischer und rechtsextremistischer Kräfte in Europa verantwortlich machte. Er habe Merkel immer wieder davor gewarnt, "Frankreich diesen Sparkurs aufdiktieren zu wollen", behauptete Gabriel. Hätte CDU nur auf ihn gehört, dann "wäre Frau Le Pen nicht so weit, wie sie jetzt gekommen ist", behauptete der SPD-Vorsitzende: "So kann man mit einem Land nicht umgehen."

Gäbe es noch ein nennenswertes öffentliches Kurzzeitgedächtnis, dann wäre es eigentlich überflüssig, daran zu erinnern, dass es gerade SPD-Spitzenpolitiker waren, die in der Eurokrise zu den größten Scharfmachern und chauvinistischen Aufwieglern gehörten. Insbesondere der stramm national gesinnte "Sozialist" Sigmar Gabriel tat sich mit rechtspopulistischen Hetzereien gegen Griechenland hervor, die ihn Vorwürfe einbrachten, AfD-Positionen zu übernehmen. Berüchtigt bleibt etwa die Entgleisung SPD-Chefs, wonach "die deutschen Arbeitnehmer und ihre Familien" die "überzogenen Wahlversprechen einer zum Teil kommunistischen Regierung" in Athen zu bezahlen hätten. Niemand spaltet so konsequent wie die deutsche Sozialdemokratie. Auf dem Höhenpunkt der Griechenland-Krise agierte Gabriel als der Hetzer des kleinen Mannes.

Doch wieso vollführen die national gesinnten "Genossen" in der Großen Koalition nun - wie schon so oft in ihrer Geschichte - eine Kehrtwende? Zum einen ist es der taktische Versucht der SPD, sich als "gemäßigte" Alternative zu Schäuble/Merkel zu präsentieren. Doch wird dieses taktische Manöver hauptsächlich durch den sehr realen europaweiten Gegenwind motiviert, den die Großmachtpolitik Berlins in der Eurokrise auslöste.

Die rücksichtslose Durchsetzung nationaler Interessen durch die Bundesregierung, die an Griechenland ein abschreckendes Exempel statuierte, um künftigen Widerstand gegen die deutsche Dominanz in Europa im Keim zu ersticken (Willkommen in der Postdemokratie), hat dem Nationalismus in Europa ungeheuren Auftrieb verschafft. Die oben genannten Sozialdemokraten sehen somit zurecht einen kausalen Zusammenhang zwischen deutschem Chauvinismus und der nationalistischen Welle, die Europa zu überrollen droht.

Zum einen ist es der soziale und wirtschaftliche Fallout des desaströsen europaweiten Spardiktats, der den Rechtsextremismus in Europa Auftrieb verschafft. Hier können tatsächlich Parallelen zur Endphase der Weimarer Republik gezogen werden, als die Sparpolitik des "Hungerkanzlers" Brüning mitten in der Weltwirtschaftskrise einen massiven Wirtschaftseinbruch und Verelendungsschub auslöste. Die Unterwerfung der Gesellschaft unter eine zum Scheitern verurteilte Sparpolitik befördert entsprechende Ideologien der Unterwerfung unter die kriselnde, mitunter offen kollabierende Kapitallogik - letztendlich einen Extremismus der Mitte, der die krisenbedingt eskalierenden inneren Widersprüche des Kapitalismus mittels einer extremistischen Zuspitzung und Irrationalisierung der gegebenen kapitalistischen Ideologien zu Externalisieren trachtet.

Der alltägliche kapitalistische Konkurrenzkampf wird durch diese rechtsextremen Krisenideologien - die niemals den Kapitalismus infrage stellen können - mit rassistischen, kulturistischen, sexistischen oder antisemitischen Ressentiment aufgeladen (siehe hierzu: "Die Steigbügelhalter").

Hieraus resultierte eine nationalistische Rechtsverschiebung des politischen Koordinatensystems in vielen Eurostaaten, die in Reaktion auf die deutschen "Muskelspiele" einsetzte. Die SPD hat also mit ihrer Einschätzung durchaus recht - nur verschweigen die Parteioberen ihren Anteil an dieser Entwicklung. Offensichtlich ist dies im Fall Frankreichs, wo der Front National (FN) nur aufgrund des Mehrheitswahlrechts bei den jüngsten Regionalwahlen keinen überwältigenden Wahlsieg verzeichnen konnte.