Erfolg der Kurden gegen den IS stört türkische Interessen

YPG/SDF erobern Teshrin-Staudamm und überqueren den Euphrat nach Westen

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In Rojava, der selbstverwalteten Region Nordsyriens, hat eine neue Offensive gegen den IS begonnen. Nachdem im November mit der Offensive auf Al Hawl im Südosten des Kantons Cizire entscheidende Basen des IS eingenommen wurden, begannen die von den USA unterstützten bzw. Demokratischen Kräfte Syriens (SDF - Syrian Democratic Forces) nun eine großangelegte Operation am Teshrin-Staudamm im Südwesten von Kobane.

Die SDF bestehen aus einem Bündnis von 13 verschiedenen arabischen militärischen Einheiten wie z.B. Burkan al Firat und Suwar ar Raqqa, von der Türkei unabhängigen turkmenischen Einheiten wie Liwa al Selçuki, den Einheiten der Suryoye und der YPG/YPJ. Die SDF wurde am 12.Oktober 2015 im Rahmen der Offensive auf Al Hawl gegründet.

SFD angeblich auf der Westseite des Euphrat. Bild: SFD

Die strategische Bedeutung von Teshrin

Der Teshrin-Staudamm und etwa 80 in seiner Umgebung liegende Dörfer wurden zwischen dem 23.12. und 26.12. durch die SDF eingenommen. Er befand sich ab 2012, wie ein Großteil der 70-km-Zone bis zur Grenze unter Kontrolle der FSA und ging am 14. Mai 2014 nach kurzen Auseinandersetzungen an den IS über.

Die Straße über den Staudamm ist die zentrale Verbindung zwischen den IS-Basen Raqqa, Minbic und Cerablus. Außerdem stellt er die regionale Stromversorgung bis nach Aleppo hin sicher. Besonders wichtig ist dieser Strom auch für die Tiefbrunnen der Landwirtschaft und die Versorgung der Bewässerungskanäle. Deswegen hatte die Operation eine besondere strategische Bedeutung.

Die Ortschaft Teshrin und der nach ihr benannte Euphrat-Staudamm liegt etwa 33km von Minbic (IS-Basis vor Aleppo), 115km von Aleppo und 80 km von der türkischen Grenze und dem vom IS kontrollierten Grenzort Cerablus und 70 km von Kobane entfernt.

In Minbic wurden am 19.12.2014 kurdische und arabische Zivilisten vom IS ermordet, berichtet die YPG über ihren Twitter-Account. Das Gebiet umfasst etwa 100 Ortschaften mit einer vorwiegend kurdischen, arabischen - und vor der Eroberung durch den IS - armenischen Bevölkerung.

Die neue Offensive der Syrischen Demokratischen Kräfte ist ein weiterer Schritt zur Kappung der Verbindungswege des IS in die Türkei. Sherwan Derwesh, der Sprecher des Verteidigungsrates von Kobane und Verantwortliche für die Offensive erklärte gegenüber ANHA: "Das Ziel unserer Operation für das Gebiet ist, dass wir entscheidende Gebiete, die wichtig für strategische Verbindungen des IS sind, befreien. Die Banden konnten bisher über diesen Weg von Raqqa nach Minbic und Cerablus passieren. Wir wollen diesen Weg jetzt verschließen. Mit der Befreiung dieses Gebietes werden wir den Banden sowohl einen schweren Schlag zufügen, als auch das Gebiet um Kobane vollkommen befreien."

Die Operation begann am Abend des 23.12.15. Bis zum Morgen des 26.12.15 gewannen die SDF-Einheiten die Kontrolle über den Staudamm. Anscheinend beteiligten sich auch Kräfte der Internationalen Koalition: Am Samstag landeten Hubschrauber der US-Armee mit Spezialeinheiten in Kobane. (More US force special forces enter kobane in the past 15 hours,some came by helicopter)#YPG. Huge operation on the way #TwitterKurds). Unterstützt werden die "Syrian Democratic Forces" durch Luftschläge der Koalition.

Der IS versuchte vergeblich, durch Verminung des Geländes den Vormarsch der SDF aufzuhalten. Wichtige Militärbasen des IS, wie das Dorf Bucak, konnten befreit werden und militärisches Material erbeutet werden. Sieben getötete IS-Kämpfer wurden aufgefunden und 13 IS-Kämpfer konnten gefangen genommen werden.

Mehrere Quellen berichten, dass die regionale arabische und kurdische Bevölkerung, besonders die Fraueneinheiten der YPJ, aber auch die SDF insgesamt, freudig begrüßte.

Noch hält der IS zwar mit Cerablus einen Grenzübergang in die Türkei. Die Eroberung von Teshrin erschwert allerdings die Versorgung und Regeneration seines südlichen Machtbereichs über die Türkei. Die Befreiung von Teshrin schwächt auch die Position der Türkei in der Region weiter, da damit ein weiterer entscheidender Schritt zu einer Offensive auf Cerablus durch die SDF getan ist. Der Verbindung des von Türkei und Jabhat al-Nusra belagerten Kantons Afrin mit den Kantonen Cizire und Kobane steht dann kaum noch etwas im Weg.

Rote Linie für die Türkei

Interessant dürfte die weitere Entwicklung werden. Sowohl der türkische Ministerpräsident Erdogan als auch sein Premier Davutoglu hatten den Euphrat wiederholt als "rote Linie" bezeichnet, deren Überschreiten durch YPG/YPJ bzw. SDF sie um jeden Preis verhindern wollten.

Der SDF-Kommandant Sherwan Derwes erklärte zum weiteren Vorgehen in Anspielung auf die Äußerungen der türkischen Regierung: "Als SDF stehen wir zu unserem Wort, wir sind entschlossen, an jeden Ort zu gehen, an dem es den IS gibt, um unsere Bevölkerung aus den Händen dieser Banden zu befreien, erkennen wir weder rote Linien noch Grenzen an."

Während die SDF auf dem Westufer des Euphrats vorrücken, scheinen sich die IS-Einheiten nach Minbic zurückzuziehen. Regionale Quellen berichten derweilen aus Minbic von Hinrichtungen an der Zivilbevölkerung.

Erdogan wird diese Entwicklung an seiner Grenze nicht gefallen. Er hatte dieses nordsyrische Gebiet schon früh als "Sicherheitszone" beansprucht, um angeblich syrischen Flüchtlingen eine Rückkehr in ein sicheres Gebiet zu ermöglichen. Tatsächlich geht es ihm aber vor allem darum, die Verbindung der kurdischen Kantone Kobane und Afrin zu verhindern. Versuche, Cerablus im Norden dieses Gebietes direkt über den Euphrat zu befreien, scheiterten deshalb immer wieder an direkten türkischen Angriffen aus der Luft und mit Artillerie. Es bleibt nun abzuwarten, wie die Reaktion der Türkei ausfallen wird, insbesondere für den Fall, dass US-Spezialeinheiten gemeinsam mit den SDF operieren sollten.