Die Flucht vor der Realität

Zur Lage der EU - Teil 3

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Die Beschlüsse zur Flüchtlingskrise lesen sich wie eine Mängelliste. In neun Absätzen haben die EU-Chefs Mitte Dezember fein säuberlich aufgelistet, was sie 2015 so alles beschlossen, aber dummerweise nicht umgesetzt haben. Hotspots, Quoten, Erfassung und Verteilung der Flüchtlinge, Schutz der Außengrenzen - all das soll nun bis Juni 2016 nachgeholt werden.

Es ist ein weiterer Beweis für die Flucht vor der Realität, die Europas Umgang mit der Flüchtlingskrise kennzeichnet. Denn die meisten Maßnahmen greifen viel zu kurz. Was soll die Umverteilung von 160.000 Menschen, wenn schon über eine Million angekommen sind? Was sollen die Appelle an die Solidarität, wenn selbst liberale Länder wie Schweden keine weiteren Migranten aufnehmen?

Der EU verschließt die Augen vor der Wirklichkeit, weil sie sich sonst ihr eigenes Scheitern eingestehen müsste. Dieses Scheitern begann schon vor Jahren, als die ersten Flüchtlinge in den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla, auf Malta oder Lampedusa ankamen. Damals verweigerten fast alle EU-Länder, Deutschland inbegriffen, die heute so viel beschworene Solidarität. Spanien, Italien und Malta wurden verdonnert, die Probleme allein zu lösen.

Die Begründung lieferte das - aus heutiger Sicht völlig weltfremde - Dublin III-Abkommen. Es legt fest, dass für Asylanträge einzig und allein jenes EU-Land zuständig ist, in das der Antragsteller eingereist ist. Für Deutschland war das bequem, es war eine Insel der Seligen, umgeben von "sicheren" Herkunftsländern und den Dublin-Staaten. Für Griechenland war es eine Katastrophe.

Doch auch diese Maginot-Linie hielt nicht. Dublin schuf eine Illusion, nun ist sie geplatzt. Und wieder hat die EU versagt. Monatelang sah sie tatenlos zu, wie die Flüchtlingszahlen in die Höhe schnellten. Als die EU-Kommission schließlich die Umverteilung von 40.000 Asylbewerbern vorschlug, war das viel zu wenig - und doch schon viel zu viel für Briten, Iren, Dänen und viele Osteuropäer, die die Quote bis heute nicht mittragen.

Die Festung Europa lebt wieder auf

"Zu wenig Europa, zu wenig Union", klagte Kommissionschef Jean-Claude Juncker - und schlug eine Aufstockung um 120.000 weitere Flüchtlinge vor. Erneutes Scheitern, erneutes Leugnen. Als Kanzlerin Angela Merkel dann noch begann, im Alleingang das Dublin-Abkommen auszusetzen, war die Lage vollends außer Kontrolle. Denn Deutschland wirkt wie ein Magnet, die EU ist dagegen machtlos.

Bis heute hat sich an dieser Lage grundsätzlich nichts geändert. Allerdings werden die EU-Regeln nun völlig neu ausgelegt. Während im Sommer noch die von Schweden und Deutschland vorgegebene liberale Linie vorherrschte, geht es jetzt um Abschottung. Plötzlich reden alle so, wie Ungarns Viktor Orban schon im Sommer redete: Die EU müsse dringend ihre Außengrenzen sichern, heißt es in Brüssel.

So lebt die Festung Europa wieder auf, die in Wahrheit nie verschwunden, nur kläglich gescheitert war. Doch auch diese Realität wollen die EU-Granden nicht wahrhaben. Sie setzen ihre letzte Hoffnung ausgerechnet in die Türkei, die den Flüchtlingsstrom nach Europa monatelang angeheizt hatte. Ein Aktionsplan soll nun dafür sorgen, dass die Ägäis "sicher" abgeriegelt wird. Zum Dank will die EU neue Flüchtlinge direkt aus der Türkei übernehmen.

Man nennt es Realpolitik - doch auch dieser Plan ist weltfremd. Bisher hat die EU noch nicht einmal die 3 Mrd. Euro einsammeln können, die dem türkischen Regierungschef Ahmet Davutoglu versprochen worden waren. Und Merkel hat es auch nicht vermocht, genügend freie Plätze für die neuen Kontingentflüchtlinge aus der Türkei zu finden.

Ende November war von 500.000 zusätzlich aufzunehmenden Migranten die Rede, jetzt sind es nur noch 50.000. Und selbst dafür hat die "Koalition der Willigen", die Merkel um sich schart, noch keine neue Heimat gefunden. Entscheidungen wurden auf das nächste Treffen der selbst ernannten EU-Kerngruppe im Februar vertagt. Doch auch dann ist kaum mit Fortschritten zu rechnen. Alle spielen auf Zeit und schieben den anderen den Schwarzen Peter zu.

Führungskrise ohne Lösung

Damit wächst die Gefahr, dass es zum großen Knall kommt. Anders als in der Eurokrise lässt er sich nicht mit einem Machtwort der Kanzlerin verhindern - denn Merkel ist in der Flüchtlingskrise selbst eine Getriebene, die auf die Hilfe der anderen angewiesen ist. Juncker kann beim besten Willen nicht liefern, Ratspräsident Donald Tusk ist zuletzt sogar auf Gegenkurs zu Deutschland gegangen.

Wir haben es also auch mit einer Führungskrise zu tun, für die sich keine Lösung abzeichnet. Merkel, Juncker und Tusk zerren an der EU, einen klaren Kurs hat keiner. Es ist ein bisschen wie bei der Meuterei auf der Bounty, am liebsten würden die meisten Passagiere aussteigen.

Hinzu kommt ein erbitterter Streit um die Souveränität. Denn die Aufnahme von Flüchtlingen und der Schutz der Grenzen berühren den Kernbereich staatlicher Gewalt. Je länger sich die EU als unfähig erweist, die Lage zu beruhigen, desto mächtiger werden jene werden, die zurück zur alten, vermeintlich verlässlichen nationalen Souveränität wollen. Orban lässt grüßen, Marine Le Pen auch.

All das macht die Flüchtlingskrise so unberechenbar - und so gefährlich. Bis Juni haben sich die EU-Chefs noch gegeben, um sie zu entschärfen. In Realität dürfte sich das Schicksal der EU schon im Frühjahr entscheiden. Wenn dann immer noch so viele Flüchtlinge kommen wie Ende 2015, wird es ernst, übrigens auch für Merkel.