"Der Euro ist eine Art monetärer Weltvernichtungsmaschine"

Bild: Mark Blyth

Der schottische Ökonom Marc Blyth erklärt, warum die Banken mit dem Euro ein Geschäftsmodell auf Kosten der europäischen Nationen aufgebaut haben

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Die europäische Vereinigung und der Euro sind in der Krise - aber warum? Fehlt es den anderen Euro-Ländern an der nötigen "Haushaltsdisziplin", um ihre Währung mit Deutschland zu teilen? Worauf beruht die Macht der Deutschen in der Europäischen Union? Dazu hat Telepolis Experten aus Ungarn, Frankreich, Italien und Großbritannien befragt.

Der gebürtige Schotte Mark Blyth unterrichtet Internationale Politische Ökonomie an der renommierten US-amerikanischen Brown University. In seinem Buch "Wie Europa sich kaputt spart", das vor zwei Jahren auf Englisch und letztes Jahr auch auf Deutsch erschien, führt er die europäische Austeritätspolitik auf eine ungelöste Bankenkrise zurück. Blyth argumentiert ganz auf der Grundlage des neoklassischen wirtschaftswissenschaftlichen Mainstreams. Im Februar 2015 verlieh ihm die Friedrich-Ebert-Stiftung den Hans-Matthöfer-Preis für Wirtschaftspublizistik, was er damals "sowohl eine Ehre als auch eine Ironie" nannte.

Herr Blyth, Sie haben über den Euro gesagt: "Es war eine Katastrophe für alle Beteiligten, mit Ausnahme für die Deutschen (bisher)." Da stellen sich natürlich gleich zwei Fragen: Was macht diese gemeinsame Währung so katastrophal?

Marc Blyth: Der Euro ist, um es möglichst dramatisch zu sagen, eine Art monetärer Weltvernichtungsmaschine. Warum? Solange man über eine eigene Währung verfügt, kann man abwerten, wenn es Ärger gibt, wie es beispielsweise die Italiener vor der Einführung des Euro immer wieder mit der Lire getan haben. Durch einen niedrigeren Wechselkurs stellten sie ihre Preiswettbewerbsfähigkeit wieder her. Das führte zwar zu der sogenannten importierten Inflation, weil die importierten Waren sich relativ verteuern und dadurch die Kaufkraft der Löhne sinkt.

Diese Abwertungen gehen also in gewisser Weise auf Kosten der eigenen Bevölkerung, aber sie war eben unglaublich praktisch für die Unternehmen, um in der internationalen Konkurrenz zu bestehen. Die Währungsabwertung schadet allerdings den anderen nationalen Marktteilnehmern, sie gehört zu den wirtschaftlichen Strategien, mit denen "der Nachbar an den Bettelstab gebracht wird".

Aus diesen Gründen argumentierten die Euro-Befürworter: Wenn alle dieselbe Währung haben, können die Nationalstaaten schlicht nicht mehr abwerten und es bleibt allen Beteiligten nur die Möglichkeit, gleich wettbewerbsfähig werden. Gerade die Italiener wollten die gemeinsame Währung unbedingt. In den ersten Jahren nach der Euro-Einführung 1999 lief ja zunächst alles wunderbar: Die Zinssätze auf die Staatsanleihen der Mitgliedsstaaten glichen sich an, Kapital strömte vom Norden nach Süden. Deshalb störte es auch niemanden, dass den europäischen Regierung die zwei wesentlichen makroökonomischen Instrumente aus den Händen genommen worden waren, um auf eine Krise zu reagieren: den Wechselkurs der eigenen Währung abzuwerten und im schlimmsten Fall die Inflation anzukurbeln.

Sie führen die Eurokrise, die sich in gewisser Weise ja schon seit fünf Jahren hinzieht, auf das Versagen der EU-Institutionen zurück. Wie meinen Sie das?

Marc Blyth: Die Krise hatte vor allem institutionelle und politische Ursachen. Im Kern haben wir es mit einer Bankenkrise zu tun, die in Europa immer noch nicht gelöst ist. Es dauerte drei Jahre, bis die Europäische Zentralbank (EZB) unter Mario Draghi endlich getan hat, was nötig war. Als die Finanzkrise 2007 einsetzte, konnten die amerikanische Zentralbank Fed und die Bank of England die Banken mit zusätzlicher Liquidität versorgen.

Die Eurozone dagegen stellte plötzlich erschrocken fest, dass sie diese Möglichkeit nicht hatte. Die EZB hätte die Rolle eines lenders of last resort spielen, also einen funktionierenden Geldmarkt zwischen den europäischen Banken gewährleisten müssen - aber dazu war die EZB einfach nicht gedacht! Unter ihrem Chef Jean-Claude Trichet war sie lediglich eine Art Währungsbehörde für die nationalen Zentralbanken, die gegen eine Inflation kämpfte, die nicht existierte. Erst als Mario Draghi Ende 2011 Chef der EZB wurde, begannen die Europäer mit den sogenannten langfristigen Refinanzierungsgeschäften und machten dasselbe, was die Amerikaner und Briten bereits drei, vier Jahre vorher angefangen hatten. Erst dann gingen die Zinsaufschläge auf die Staatsanleihen zurück und die Krise ließ nach.

Die Moral der Geschichte: Solange alles gut läuft, brauchen Regierungen die Möglichkeit nicht, Geld zu drucken und den Wechselkurs ihrer Währung zu senken. Aber wenn die Wirtschaft nicht gut läuft, dann sind diese Möglichkeiten einfach toll.

Die europäischen Banken sind nicht too big to fail, sie sind too big to bail

Als die Finanzkrise ihren Anfang nahm, galt sie hierzulande zunächst als amerikanisches Problem. Im Spätsommer 2008 sagte der damalige Finanzmister Peer Steinbrück "der Ursprungsort und der eindeutige Schwerpunkt der Krise" seien die USA. Er hielt es damals sogar für wahrscheinlich, dass Amerika den "Status als Supermacht des Weltfinanzsystems verlieren" würde. Tatsächlich begann doch die Krise mit dem Zusammenbruch des amerikanischen Immobilienmarkts. Warum hat sie Europa so stark getroffen?

Marc Blyth: Minister Peer Steinbrück hatte recht, es war tatsächlich eine Krise des angelsächsischen Kapitalismus. Aber wissen Sie, was wir ziemlich schnell herausgefunden haben? 70 Prozent der amerikanischen sogenannten Special Investment Vehicles, die in Fremdwährungen Kredite aufgenommen hatten, um damit ihre dubiosen Hypüotheken aufzukaufen., gehörten europäischen Banken. 70 Prozent!

Der europäische Bankensektor ist deutlich größer als der amerikanische und durch den Euro und die Möglichkeiten der Hebelung (Aufnahme von Fremdkapital für Finanzgeschäfte, MB) ist er weiter gewachsen. Die drei größten Banken in Frankreich entsprechen über 300 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, die zwei größten deutschen Banken 125 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Zum Vergleich: Die fünf größten amerikanischen Banken haben ein Vermögen, das ungefähr 60 Prozent des Bruttoninlandsprodukts entspricht. Wenn die europäischen Banken umkippen, erschlagen sie alle. Sie sind nicht too big to fail, sie sind too big to bail, zu groß für eine Rettung. Wir reden hier nicht über eine Firma wie Lehman Brothers, sondern über eine Bank wie Crédit Agricole, die fast so groß ist wie das Bruttoinlandsprodukt Frankreichs.

Wie konnten der europäische Bankensektor und die Menge an faulen Krediten so groß werden?

Marc Blyth: Dazu müssen Sie verstehen, dass der Finanzmarkt in Europa anders als in den USA strukturiert ist. Amerikanische Unternehmen besorgen sich das Geld stärker über den Aktienmarkt. Die europäischen Banken sind größer, weil der Kapitalmarkt in Europa vergleichsweise klein ist.

Für die europäischen Banken waren Staatsanleihen ein tolles Geschäft, bis der Euro eingeführt wurde. Mit griechischen Anleihen konnte man 25 Prozent verdienen, mit italienischen 12 Prozent, 10 Prozent mit französischen Titeln. Diese Zinsen entsprachen dem Risiko der Währungsabwertung und Inflation. Durch den Euro wurden diese Risiken dann abgeschafft, die Zinsen auf europäische Staatsanleihen näherten sich einander an - und den Banken ging ein lukratives Geschäftsfeld flöten.

Um trotz des sinkenden Spreads weiterhin Profit zu machen, erhöhten sie die Menge ihrer Ankäufe, aber das ging nur mit Fremdkapital. Durch diese Hebelung verschulden sie sich natürlich gleichzeitig. Deswegen war der Euro seine Katastrophe: Alle Mitgliedsländer bekamen den gleichen Zinssatz wie Deutschland, was gleichzeitig wunderbar und völlig irrsinnig war. Aber alle fanden das völlig in Ordnung so, bis die Zinsen in der Eurokrise wieder auseinander strebten, die Banken um Hilfe schrien und es auf einmal nicht mehr in Ordnung war.

Anders gesagt: Die Banken haben ein Geschäftsmodell auf Kosten der europäischen Nationen aufgebaut, aufgrund der wohl schlimmsten Fehlanreize in der Wirtschaftsgeschichte. Dass die Bevölkerungen Europas jetzt durch Sparmaßnahmen dafür büßen müssen, dass dieses Geschäftsmodell letztlich schief ging, finde ich skandalös.

Bild: Mark Blyth

Wie entwickelten sich die Kapitalströme innerhalb der Eurozone?

Marc Blyth: Wie viele andere habe ich schon vor vier Jahren darauf hingewiesen, dass Deutschland nicht antizyklisch, sondern prozyklisch Geld verliehen hat. Zwischen 2003 und 2008, als alles gut lief, haben deutsche Banken den Mittelmeerländern hohe Kredite gegeben. Nach Frankreich war Deutschland der größte Gläubiger in der Eurozone, und die Schuldner waren Portugal, Griechenland und Frankreich. Als dann die Finanzkrise einsetzte, hörte dieser Kapitalstrom natürlich abrupt auf.

"Die Europäer setzen auf Liquidität für die Banken und Austerität für die Bevölkerung"

Seit der Finanzkrise reagieren die europäischen Staaten mit Austerität. Sie senken die Staatsausgaben und Löhne. Die entsprechenden Regeln in der Eurozone sind durch den Fiskalpakt und weitere Vereinbarungen verschärft worden. Können so die ja tatsächlich enorm gewachsenen Staatsschulden abgebaut werden?

Marc Blyth: Nein. Das europäische Rezept ist Liquidität für die Banken und Austerität für die Bevölkerung. Aber dass die EZB durch die quantitative Lockerung die Geldmenge erhöht, schiebt das Problem lediglich auf. Die sogenannten Strukturreformen und Sparprogramme wiederum werden keinen Erfolg haben. Dann werden die Austeritätsbefürworter den Opfern erzählen, sie seien selbst schuld, weil sie die Vorgaben nicht richtig umgesetzt hätten. Ihre wirtschaftlichen Argumente haben keine Substanz, sie sind einfach eine theoretische Rechtfertigung für ein politisches Programm.

Anfang des Jahres sagte der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble, die Rettungsmaßnahmen für die Krisenländer mit ihren Auflagen seien erfolgreich gewesen.

Marc Blyth: Diese Behauptung kann ich auf Grundlage der vorliegenden Daten nicht nachvollziehen. In der Finanzkrise ab 2007/2008 sind einige EU-Ländern regelrecht abgestürzt, manche auf 88 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung vor dem Einbruch. Betrachten wir einmal, wie lange es gedauert hat, bis sie ihr altes Niveau wieder erreicht haben. Das erste Land, dem das gelang, war Belgien. Haben die Belgier etwa massive Kürzungen durchgesetzt? Das Land hat übrigens eine enorm hohe Staatsverschuldung. Meine Lieblingserklärung für den belgischen Erfolg ist, dass es zwei Jahre lang keine Regierung hatte, die den Karren in den Dreck gefahren hätte; so konnte die Wirtschaft ungestört wieder in Ordnung kommen.

Nach Belgien erreichte als nächstes Deutschland das Vor-Krisen-Niveau. Das lag allerdings daran, dass die Konjunkturprogramme in den USA, Großbritannien und China dafür sorgten, dass die Exporte nicht einbrachen und ihr weiterhin eure BMW in alle Welt verkaufen konntet. Im Jahr 2009 kurbelte China die Wirtschaft mit zusätzlichen Ausgaben in Höhe von 13 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts an, Spanien in Höhe von sieben Prozent, die USA mit 5,5 Prozent.

Nach den Deutschen erholte sich Frankreich, dieses angeblich reformunfähige Land. Danach kam Großbritannien, aber die Briten haben nur bis zum Jahr 2012 die Staatsausgaben gekürzt, dann hörten sie auf. Aus ideologischen Gründen wollen sie zwar den Wohlfahrtsstaat beschneiden, aber makroökonomisch betreiben sie keine Austerität.

Schauen wir uns jetzt die angeblichen Erfolgsgeschichten an: Die irische Wirtschaft lebt vor allem davon, dass die Profite, die amerikanische Unternehmen wie Google oder Starbucks in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden erzielen, auf Bankkonten in Dublin landen, dort mit attraktiven 12,5 Prozent versteuert werden und dann weiter in die USA fließen, was als Dienstleistungsexport gilt. Kein anderes Land könnte dieses Modell übernehmen, weil es auf niedrigen Unternehmenssteuern und einer Bevölkerung von nicht einmal fünf Millionen Menschen beruht.

Spanien hat ganze sieben Jahre gebraucht, um sich von der Krise zu erholen. Die Banco de España hat kürzlich in einem ihrer Berichte die positive Handelsbilanz des Landes darauf zurückgeführt, dass der Ölpreis niedrig ist, die Europäische Zentralbank quantitative Lockerung betreibt und die Importe wegen der sinkenden Binnennachfrage zusammengebrochen sind.

Das alles soll ein Erfolg sein? Mich erinnert das an jemanden, der sich aus dem Fenster stürzt, dabei seine Hüfte bricht und dann stolz darauf ist, dass er auf seinen Ellbogen davon kriechen kann. Mir scheint Herrn Schäubles Interpretation der Datenlage sehr gewagt.

"Italien, Spanien oder Frankreich können das deutsche Modell nicht übernehmen

In Ihrem Buch von 2013 haben Sie argumentiert, dass es für die Eurozone unmöglich sei, das bundesdeutsche Wirtschaftsmodell zu übernehmen, also auf steigende Exporte und den Weltmarkt zu setzen und Handelsüberschüssen zu erzielen. Aber seitdem ist doch genau das geschehen. 2014 erzielt die Eurozone insgesamt einen Überschuss in der Leistungsbilanz von fast drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts - und zwar ohne dass dies auf Kosten des deutschen Handelsüberschuss ging. Spanien, Portugal und Italien, selbst Griechenland exportieren mittlerweile mehr als sie einführen. Diese Exporte gehen vor allem nach Großbritannien und die USA. Warum lagen Sie da falsch?

Marc Blyth: Zunächst möchte ich erinnern, dass Überschüsse eigentlich kein Grund zum Stolz sind, die Handelsbilanz soll ausgeglichen sein. Aus irgendwelchen Gründen, die ich nicht ganz verstehe, gilt der deutsche Überschuss von sieben Prozent bezogen aufs Bruttoinlandsprodukt als unproblematisch.

Um diese Zahlen ins rechte Licht zu rücken: Die portugiesische Wirtschaft ist zu klein, um eine nennenswerte Rolle zu spielen. Die irische Wirtschaft entspricht ungefähr der Hälfte von Brooklyn, New York. Worauf es ankommt, sind die großen Eurozonen-Länder. Spanien hat einen Handelsüberschuss, weil die Importe zusammengebrochen sind und wegen Auswirkungen der expansiven Geldpolitik.

Aber Sie haben recht, als ich das Buch geschrieben habe, konnte ich mir einfach nicht vorstellen, dass eine Region, die 30 Prozent der Weltwirtschaft ausmacht, einen so großen Exportüberschuss produziert und der Rest der Welt das ausgleicht. Schließlich betreiben die Asiaten ja dasselbe Exportmodell. Die Amerikaner würden zum consumer of last resort werden, sozusagen zur Konsumzuflucht der ganzen Welt. Das hielt ich damals für unmöglich, auch für politisch nicht durchsetzbar.

Da lag ich falsch, und zwar aus folgenden Gründen: Seit der Jahrtausendwende ist Zentralosteuropa zu einem Zulieferer der deutschen Exportindustrie geworden. Etwa 30 Prozent der tschechischen Exporte gehen nach Deutschland, ein Drittel davon sind Automobilteile. Als post-kommunistisches Land mit niedrigen Lohnkosten, wenig Sozialstaat und einer jungen Bevölkerung ist diese Strategie gangbar. Frankreich oder Italien können bei diesem Spiel allerdings nicht mitmachen.

Warum eigentlich? Warum sollen Italien, Frankreich oder Spanien nicht "mehr wie Deutschland werden", wie es oft heißt?

Marc Blyth: Das sind große Volkswirtschaften, die auf Binnenkonsum beruhen und deren Bevölkerung älter ist. Aber wenn die großen Länder der Eurozone weder die Geldmenge erhöhen, noch ihre Währungen abwerten können, dann müssen diejenigen unter ihnen, die nicht zu einem exportgetriebenen Wachstum in der Lage sind, ihr Staatsdefizit erhöhen. Sie müssen sich verschulden, obwohl das seit dem Stabilitätspakt von 2012 eigentlich verboten ist.

Die einzigen Alternativen für Frankreich und Italien sind entweder radikale Reformen, um die Kosten und Löhne zu senken und ebenfalls einen Handelsüberschuss zu erreichen, oder sie müssen dauerhaft mit immer neue Sparmaßnahmen ihre Staatsverschuldung drücken, damit Deutschland und seine Freunde einen Handelsüberschuss genießen kann. Ob das politisch möglich ist, sei dahingestellt. Für mich klingt es jedenfalls nicht nach einer nachhaltigen Lösung für die Eurozone.

Herr Blyth, dann lassen Sie uns über die politische Seite der Eurokrise sprechen. In wirtschaftlichen Fragen kann Deutschland bequem Mehrheiten in der Europäischen Union organisieren. Selbst in den harten Verhandlungen der Finanzminister um die griechischen Staatsschulden im Sommer 2015 konnte Wolfgang Schäuble sich mit seinem Konzept durchsetzen. Warum?

Marc Blyth: Ja, die deutsche Dominanz scheint solide zu sein. Von den Sozialdemokraten einmal abgesehen - die aus politischen Gründen nicht wollen, dass sich Parteien wie Syriza als Konkurrenten etablieren - unterstützen die Osteuropäer den deutschen Kurs. Sie sind Teil der Lieferketten, die nach Deutschland führen. So lange Deutschland exportiert, exportieren sie auch, deshalb geht es ihnen wirtschaftlich gut. Ihre Löhne steigen, und das können sie auch, weil sie zuvor so niedrig waren. Die Bevölkerung ist vergleichsweise jung. Die Gegner der restriktiven Haushaltspolitik sind die Länder, die bei dem Exportmodell nicht mitmachen können,

"Die Frage ist, welche Länder zur Eurozone gehören werden"

Die politischen Reibungen auf europäischer Ebene zwischen den Mitgliedsstaaten nehmen deutlich zu, beispielsweise die gegenwärtigen harten Auseinandersetzungen um die europäische Bankenunion. Was schätzen Sie, wie lange wird es den Euro noch geben?

Marc Blyth: Der Euro wird weiter bestehen, daran zweifle ich überhaupt nicht! Die Frage ist nur, welche Länder auf längere Sicht zur Eurozone gehören werden. Als die Griechen im Sommer 2015 die Konfrontation gesucht haben, kam es sofort zu einer Kapitalflucht. Jetzt sind sie in einer Art monetärer Einzelzelle eingesperrt. Seit dem Einsetzen der Krise ist das Bruttoinlandsprodukt um etwa 30 Prozent geschrumpft, nun wird sie um vielleicht weitere zehn Prozent schrumpfen, Griechenland trug früher zwei Prozent zum Bruttoinlandsprodukt der EU bei, heute sind es noch 1,7 Prozent. Ist das nicht ein eindrucksvoller Beleg für den Erfolg der bisherigen Reformmaßnahmen?

Aber Griechenland ist zu klein, um für das Schicksal der EU eine große Rolle zu spielen. Die Bruchlinien dieser Politik liegen anderswo: Wenn sich das Wachstum der Weltwirtschaft verlangsamt oder zum Stillstand kommt, wird das Deutschland und seine osteuropäischen Verbündeten hart treffen. So oder so werden antieuropäische Parteien wie der französische Front National stärker werden, die gegen Europa und gegen den Euro mobilisieren.

Jetzt bricht die politische Mitte in Europa langsam zusammen, besonders die linke Mitte. Wenn die deutsche SPD so weiter macht, wird sie in nach zwei weiteren Wahlperioden belanglos sein. Früher konnten die schwedischen Sozialdemokraten einen toten Hund an einen Stock hängen und ihm ein Hemd der Arbeiterpartei anziehen, der wurde mit großer Mehrheit gewählt! Heute müssen sie Koalitionen eingehen. Die rechte Mitte ist etwas weniger betroffen, weil ihre Wähler tendenziell nicht so sehr unter der Austeritätspolitik leiden. Aber die politischen Systeme werden immer instabiler.