Ich verdaue, also bin ich

Escherichia coli, einer der vielen Gäste im Darm. Bild: USDA.gov

Die Bakterienzusammensetzung im Darm kann über Krankheit und Gesundheit im Gehirn entscheiden

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Wer bin ich? Worin besteht meine Persönlichkeit, meine Individualität? Natürlich sind die möglichen Antworten auf so grundlegende Fragen vielfältig. Der Philosoph Richard Müller-Freienfels unterschied in seiner "Philosophie der Individualität" sieben Aspekte seines Themas, darunter auch das Bild, das andere von einem Menschen haben, und die Dinge, die er erschaffen hat. Trotzdem verbreitete sich in den letzten Jahrzehnten eine Sicht, die als "Gehirn-Körper-Dualismus" kritisiert worden ist und die schlicht konstatiert: Ich bin mein Gehirn. Darin steckt meine Persönlichkeit, und eine Kopftransplantation - wie sie an Affen bereits probiert wird - wäre eigentlich eine Körpertransplantation. Und ethisch unbedenklich.

Das war natürlich immer schon durchsichtiger Unfug. Wir erkennen einen Menschen an seinem Gang, seinem Geruch, seiner Stimme; die Polizei erkennt ihn an Fingerabdrücken und DNA, die Geheimdienste an seinen Verbindungsdaten. Ich nehme meinen ganzen Körper als "Ich" wahr, und meine Körpergröße, Leistungsfähigkeit und Sexualität bestimmen mein Selbstbild mit. Das Gehirn mag das alles bündeln und verarbeiten - aber mit einem anderen Körper würde es andere Daten verarbeiten, und ich wäre ein anderer.

Seit schon einigen Jahren sieht die Gehirnforschung das ähnlich. Das Gehirn ist keine vom Körper unabhängige Denkzentrale, die in einem Nährmedium genauso gut funktionieren würde. Vielmehr beeinflussen zahlreiche körperliche Vorgänge maßgebliche Funktionen des Gehirns, wie Entscheidungsfindung, geistige Gesundheit und Temperament.

Aus dem Bauch entscheiden

Patienten mit einem Schaden im ventromedialen Präfrontalen Kortex, also jenem Teil des Stirnhirns, der unmittelbar über den Augen sitzt, sind normal intelligent, können sprechen, argumentieren, Aufgaben lösen. Aber ihre Entscheidungen sind kurzsichtig: Stets und ohne jede Lernfähigkeit bevorzugen sie kurzfristige vor langfristigen Belohnungen.

Heißt das, dass im Präfrontalen Kortex die Entscheidungen getroffen werden? Nein, sagt der kalifornische Neurologe Antonio Damasio: Dort werden sie bloß gelesen. Fallen tun die Entscheidungen ganz woanders, nämlich in jenen unbewussten, autonomen Antworten, mit denen unser Körper - gesteuert durch Emotionen-verarbeitende Gehirngebiete - auf Situationen reagiert. Erst indem die körperliche Gefühlsreaktion über aufsteigende Nervenbahnen wieder vom Gehirn "gelesen" wird, wird die Emotion zum Gefühl. Und dieses Gefühl kann dann wiederum handlungsleitend sein.

In einem jüngeren Überblicksartikel hat Damasio präzisiert, wie das geschehen könnte: Nicht nur die propriozeptive Information unseres Tastsinnes wird im Gehirn somatotopisch verarbeitet - d.h. benachbarte Gebiete der Haut sind auch im Gehirn benachbart abgebildet und ergeben den sogenannten Homunkulus -, sondern auch die enterozeptive Information über unseren inneren Zustand läuft durch somatotopisch organisierte Kerne. So kann das Gehirn Gefühle den jeweiligen Körperregionen zuordnen.

Und da die Nervenfortsätze - die Axonen - häufig unisoliert nebeneinander liegen, vermögen starke Gefühlseindrücke auch Nachbaraxonen mit zu rekrutieren. So erfährt das Gehirn nicht nur, wo und wie sich etwas anfühlt, sondern auch wie stark. Der PFC nutzt dann nur noch dieses Bauchgefühl als von Damasio sogenannten "somatischen Marker", um schnell eine Entscheidung zu treffen.

Bauch krank - Hirn krank

Nun ist es bei Damasios somatischen Markern weiterhin so, dass einige Teile des Gehirns dem Körper sagen, was dieser anderen Teilen des Gehirns zu signalisieren habe. Der Körper ist nur ein Umweg - vielleicht ein Resonanzraum - für die Urteile des zentralen Nervensystems.

Tatsächlich aber beeinflussen die Eingeweide die Funktion des Gehirns auch autonom und ohne vorherige Anweisung. So mehren sich die Hinweise darauf, dass einige neurologische Erkrankungen ihren Ursprung im Bauch haben.

Beispielsweise untersuchte eine Forschergruppe um Paul Patterson und Sarkis Mazmanian aus Pasadena ein Mausmodell für autistische Störungen. Inspiriert wurden sie dadurch, dass bei Menschen gastrointestinale Störungen häufig mit Autismus einhergehen. Eine Ursache dafür könnte die Zusammensetzung des Mikrobioms sein - also jener Billionen von Bakterien, die unseren Darm besiedeln und dabei nicht nur Nahrungsstoffe aufschließen, die wir nicht verdauen könnten, sondern auch sowohl nützliche Stoffe - wie Buttersäure oder einige Vitamine - ebenso wie Giftstoffe produzieren. Verschiedene Studien hatten bereits gezeigt, dass das Mikrobiom von Autisten ungewöhnlich zusammengesetzt ist, und andere, dass das Mikrobiom einen Einfluss auf das Verhalten haben kann.

Die Forscher nutzten das Autismusmodell der mütterlichen Immunantwort (maternal immune activation, MIA). Dabei werden trächtige Mäuse mit einem Virus infiziert; ihre Nachkommen zeigen dann Störungen in Kommunikation, Sozialverhalten und stereotypem Verhalten, ebenso wie neuronale Veränderungen, die denen menschlicher Autisten nahekommen. Dass das MIA-Modell von anderen Wissenschaftlern als Schizophreniemodell genutzt wird, schmälert zwar etwas seine Aussagekraft für Autismus, aber nicht den Reiz der Ergebnisse.

Wie erwartet hatten die MIA-Mäuse die typischen Verhaltensauffälligkeiten. Sie litten aber auch unter einem "leaky gut": Die Verbindungen zwischen den Darmwandzellen waren undicht, so dass Stoffe aus dem Chymus, dem Verdauungsbrei, direkt in die Blutbahn gelangen konnten.

Auffallend war vor allem, dass sich die Blutkonzentration von 4-Ethylphenylsulfat ver46fachte. Zudem fand sich eine andere Zusammensetzung des Mikrobioms, mit mehr Clostridium- und weniger Bacteroidia-Arten - wie man das auch bei menschlichen Autisten findet. Als die Forscher junge MIA-Mäuse oral mit dem beim Menschen vorkommenden Bacteroides fragilis behandelten, verbesserten sich die Löchrigkeit des Darms ebenso wie zahlreiche damit zusammenhängende biochemische Maße, und die Artenzusammensetzung des Mikrobioms normalisierte sich ebenso wie der Blutgehalt von 4-Ethylphenylsulfat.

Vor allem aber verbesserten sich alle Verhaltensmaße für Ängstlichkeit oder stereotypes Verhalten - wenn auch nicht das Sozialverhalten - auf das Niveau gesunder Mäuse. Umgekehrt konnten die Verhaltensauffälligkeiten durch Gabe von 4-Ethylphenylsulfat induziert werden. Die Bakterienzusammensetzung im Darm entschied über Krankheit und Gesundheit im Gehirn.

In einer früheren Studie hatte dieselbe Arbeitsgruppe bereits gezeigt, dass das Mikrobiom den Entzündungsverlauf in einem Tiermodell von Multipler Sklerose beeinflusst - einer Autoimmunerkrankung, bei der welcher das Immunsystem die Myelinscheiden angreift, also die Isolierung der Axonen im Gehirn. Die Arbeitsgruppe um John Cryan aus dem irischen Cork hat vor wenigen Wochen Ergebnisse vorgestellt, nach denen die Darmbakterien die Myelinisierung im Stirnhirn beeinflussen. Vielleicht ist ja die bekannte Korrelation, dass Multiple Sklerose mit wachsender Entfernung vom Äquator häufiger auftritt, gar nicht, wie stets vermutet, auf die sonnenlichtabhängige Synthese von Vitamin D zurückzuführen, sondern auf unterschiedliche Ernährungsgewohnheiten zwischen Tropen und gemäßigten Breiten?

Auch für andere Gehirnerkrankungen wie Depression und sogar die Parkinsonerkrankung kommen unsere winzigen Mitbewohner zunehmend in den Blickpunkt. Die sichtbaren Symptome der Parkinsonerkrankung entstehen zwar durch den massiven Verlust Dopamin-ausschüttender Zellen in der Substantia nigra. Dies ist aber, wie der Neurologe Heiko Braak schon vor Jahren beschrieb, nur der Endpunkt einer langen Kaskade von Schädigungen, die ganz woanders im Nervensystem beginnen. Zum Beispiel im Bauchnervensystem, von wo schädliche Proteine wie α-Synuclein von Neuron zu Neuron bis ins Gehirn weitergegeben werden können. Ob einen weiteren Schritt davor die Darmbakterien daran beteiligt sind, die Erzeugung von α-Synuclein anzuregen - das ist bislang noch Spekulation.

Die Hinweise, dass Erkrankungen des Gehirns ihre Ursache im Bauch haben könnten, hat selbstverständlich bereits die Pharmaindustrie auf den Plan gerufen. Auch der Milliardenmarkt für sogenannte "probiotische" Lebensmittel profitiert von den Erkenntnissen, obwohl noch völlig unklar ist, ob und wie sie die Besiedlung des Darms beeinflussen können. Zumal die individuelle Mikrobiomzusammensetzung jedes Menschen mehr von seiner langfristigen Ernährungsweise abhängt als von kurzfristigen Diäten: Wer sich vorwiegend von Kohlenhydraten ernährt, beherbergt andere Bakterien als Fleischfresser, und selbst zehn Tage Ernährungsumstellung ändern daran nicht viel.

He ain't got the guts - oder jedenfalls das Falsche drin

Dass jeder Mensch seine typische Bakteriengemeinschaft in sich trägt, deren Zusammensetzung z.T. durch seine Ernährung bestimmt wird, vielleicht aber auch durch sein Immunsystem und sein genetisches Profil, wirft die Frage auf: Beeinflussen unsere mikrobischen Mitbewohner möglicherweise sogar unsere Handlungstendenzen, unser Temperament?

Bei Mäusen zumindest scheint es so zu sein, wie eine Studie zeigte. Mäuse des Albimostamms BALB/c sind normalerweise notorisch feige. Natürlich tun Mäuse an sich schon gut daran, in Deckung zu bleiben, aber selbst im Vergleich zu anderen Zuchtstämmen sind BALB/c-Mäuse auffallend risikoscheu. Aber als Wissenschaftler um Stephen Collins von der McMaster-Universität (Ontario) ihnen oral ein Antibiotikum verabreichten, das die Zusammensetzung ihres Mikrobioms messbar durcheinander brachte, wurden die Tiere unversehens leichtsinnig. Zwei Wochen später, als ihr Mikrobiom sich normalisiert hatte, benahmen sie sich wieder normal.

Aber die Forscher gingen noch einen Schritt weiter. Zum Vergleich zogen sie einen zweiten Albinostamm heran - NIH Swiss-Mäuse -, der mutiger ist als BALB/c. Keimfrei aufgezogenen Tiere beider Stämme wurden Kotproben vom selben oder vom jeweils anderen Stamm in den Darm verabreicht. Und ihr Verhalten kehrte sich um: NIH Swiss-Mäuse mit BALB/c-Mikrobiom wurden ängstlich, BALB/c-Mäuse mit NIH Swiss-Mikrobiom wurden mutig. In beiden Teilstudien war zudem der Gehalt des Wachstumsfaktors BDNF im Hippokampus, wo er anxiolytisch wirkt, bei den mutig gewordenen Mäusen erhöht.

Das Ich im Bauch

Asiatische Kulturen siedeln Seele und Gesundheit seit jeher im Bauch an. Die moderne, und doch eigentlich recht unerwartete Zusammenarbeit von Mikrobiologie und Neurobiologie - von den Wissenschaften von den allereinfachsten und den allerkomplexesten lebenden Systemen - scheint ihnen Recht zu geben.

Wer wir sind und wie wir sind, welche Krankheiten uns heimsuchen und wie wir uns benehmen, all das entscheidet sich nicht, oder jedenfalls nicht allein, im Kopf, sondern im Bauch. Dass der Geist vom Körper losgelöst sei - als ätherisch wabernde "res cogitans", oder als autonom kalkulierendes Gehirn - war, wie Damasio es im Titel seines ersten Buches benannte, "Descartes Irrtum". Ein Irrtum, der sich erstaunlich lange gehalten hat.