Köln: Polizei tappt im Dunkeln

Die Vorfälle in der Silvesternacht in Köln werfen viele Fragen auf

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Um es gleich vorweg zu sagen: Die Polizei Köln gibt in Bezug auf den Vorfall am Bahnhof in der Silvesternacht (Köln: "Völlig neue Dimension der Gewalt") keine Auskünfte über die Täter - weder über deren Anzahl, noch über verdächtigte Personen, noch über deren Herkunft. Alle bis dato gehandelten Zahlen und Informationen sind demnach unseriös.

Aggressive Stimmung am Bahnhofsplatz

Am frühen Dienstagabend veröffentlichte die Polizei Köln erneut eine Pressemitteilung, in der die Geschehnisse etwas konkreter erläutert werden, allerdings immer noch ohne konkrete Hinweise auf die Täter.

In ihren Veröffentlichungen stützt sich die Pressestelle der Polizei Köln auf die Aussagen derjenigen, die eine Anzeige gestellt haben, auf Aussagen von Zeuginnen und Zeugen sowie der Beamten vor Ort. Demnach gab es in der Silvesternacht am Bahnhofsplatz eine eklatant aggressive Stimmung, wie Polizeisprecherin Stefanie Becker auf telefonische Nachfrage von Telepolis erläuterte (Stand Dienstagnachmittag, ca. 15h).

Viele der dort feiernden Personen seien stark alkoholisiert gewesen, "pyrotechische Munition", auf gut deutsch Böller und Silvesterraketen, seien unkontrolliert in die Menge geschossen worden. Wegen der aggressiven Stimmung seien die Polizeibeamten an dem Punkt konzentriert worden. Um eine Massenpanik wegen der unkontrollierten Knallerei zu verhindern, sei der Platz schlussendlich geräumt worden.

Alles in allem beschrieb die Polizei Köln die Lage in einer Pressemitteilung vom Morgen des 1. Januar 2015 dennoch als weitestgehend entspannt.

20 Täter oder 1.000?

Um so erstaunlicher war es, dass am vergangenen Montag in den Medien von massenhaften sexuellen Übergriffen auf eben jenem Bahnhofsplatz die Rede war. 1.000 Täter habe es gegeben und 60 Anzeigen, hieß es in manchen Medien. Im Laufe des Tages waren verschiedene Zahlen zu lesen, von 20 bis 2.000 Tätern wurde alles geboten, und auch die Zahl der Anzeigen variierte zwischen 15 und 80.

In verschiedenen Nachrichten war am Dienstag Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) zu sehen und zu hören, der sagte, dass aus einer Gruppe von zunächst 500, dann 1.000 Personen heraus kleinere Gruppen von jeweils 15 - 20 Männern agierten, die ihre Opfer zunächst einkreisten, um sie dann zu bestehlen. Dabei sei es zu sexuellen Übergriffen auf Frauen gekommen. Es gebe 60 Anzeigen.

Das klingt wie: Ein Mob von 1.000 Männern bildete kleinere Banden, die dann ihre Opfer separierten, um sie zu berauben und sexuelle Gewalt gegen Frauen auszuüben. 60 Frauen haben Anzeige erstattet. Das deckt sich in keiner Weise mit den Angaben der Polizei, wie der Pressemitteilung von Dienstagabend zu entnehmen ist.

Da ist lediglich die Rede davon, dass die Gruppe alkoholisierter Personen - vornehmlich Männer - von 500 auf 1.000 angewachsen sei. Nichts belegt, dass diese 1.000 Männer identisch sind mit den Diebesbanden, die später von sich reden machten.

90 Anzeigen, jede 4. wegen eines Sexualdelikts

Laut Polizeisprecherin Becker lagen Dienstagmorgen 90 Anzeigen vor. Allerdings nur etwa Einviertel davon wegen sexueller Übergriffe, bis hin zu einer Vergewaltigung. Der Rest beziehe sich auf Diebstahlsdelikte.

Becker betonte, dass die Zahl der Anzeigen derzeit ständig steige. Als Grund für die zeitliche Verzögerung nannte sie, dass viele derjenigen, die in der Silvesternacht am Kölner Bahnhof gefeiert hätten, gar nicht aus Köln kämen. Außerdem hätten sich sicherlich auch einige inzwischen bei der Polizei gemeldet, die z.B. "begrapscht" worden wären und die diese sexuelle Belästigung ansonsten zwar als unangenehme Erfahrung gewertet, aber nicht bei der Polizei gemeldet hätten.

Dass Frauen bei der Polizei vorstellig wurden, die in Wahrheit nicht betroffen seien, aber die Gelegenheit nutzen wollten, um die Stimmung anzuheizen, schloss sie weitestgehend aus. Die vorgetragenen Aussagen seien sehr glaubwürdig und würden sich decken, lediglich die Stärke der Gruppe der Männer variiere. Das sei allerdings kein Beleg dafür, dass einzelne Aussagen gefälscht seien, sondern dass die Täter seien vermutlich tatsächlich in unterschiedlich großen Gruppen unterwegs gewesen.

Sicher sei, so Becker, dass Gruppen von Männern in einer Stärke von 15, 20, manchmal auch mehr Personen unterwegs gewesen seien, ihre Opfer eingekreist hätten und es in vielen Fällen dabei zu sexuellen Übergriffen auf Frauen gekommen sei. Wie viele solcher Gruppen unterwegs waren, könne indes niemand genau sagen:

Das Drama, das sich in der Silvesternacht ereignet hat, kristallisiert sich erst nach und nach heraus. Wir wissen es nicht, ob es insgesamt 20 Männer waren oder 1000.

Täterbeschreibung ruft Rassisten auf den Plan

In vielen Aussagen wurden die Täter als "nordafrikanisch" oder "arabisch" beschrieben. Das hatte zur Folge, dass in sozialen Netzwerken der rechte Mob seiner Empörung mit wüsten Beschimpfungen auf "das Asylantenpack" Luft machte. Allerdings gibt es seitens der Polizei keinerlei belastbaren Fakten, die einen Bezug zu Asylsuchenden herstellen lassen.

Becker verneinte die Frage, ob die vergleichsweise hohe Anzahl der Anzeigen wegen sexueller Delikte den Hintergrund hätte, dass die Hemmschwelle der Frauen bei Männern tatsächlicher oder vermeintlicher nicht-deutscher Herkunft niedriger sei als bei deutschen Tätern.

Eine derartige Häufung von sexuellen Übergriffen im öffentlichen Raum, bei der Täter und Opfer nicht schon vor der Tat in irgendeiner Form von Beziehung zueinander gestanden hätte, sei ungewöhnlich.

Oftmals seien Opfer und Täter bereits vor der Tat miteinander bekannt gewesen, was die Hemmschwelle der Frauen sicher erhöhe. Aber wenn es sich um komplett fremde Männer handele, spiele deren Nationalität in Bezug auf die Bereitschaft, den Vorfall zur Anzeige zu bringen, ihrer Ansicht nach keine Rolle, so Becker.

Videoüberwachung bringt bislang mageres Ergebnis

Dass auch die Polizeibeamten vor Ort relativ wenig zur Klärung des Sachverhalts beitragen können, ist laut Becker der Taktik der Täter geschuldet. Die Beamten hätten in der Menschenmenge gestanden, es sei dunkel gewesen, viele der Feiernden seien dunkel gekleidet gewesen, und die Täter hätten ja offenbar Kreise um die Opfer gebildet und so vor den Blicken von außen abgeschirmt. Auch vor denen der Beamten.

Der Platz sei zwar videoüberwacht, aber die Auswertung der Kameras werde noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Wie es insgesamt vermutlich dauern werde, bis der Vorfall aufgeklärt werden könne.

Auch aus Hamburg wurden inzwischen ähnliche Vorfälle berichtet, die sich ebenfalls in der Silvesternacht ereignet haben sollen. Von 27 Anzeigen ist in einer Pressemitteilung der Polizei die Rede, zehn davon rein wegen sexueller Belästigung, die übrigen in Kombination mit Diebstählen.

Vergleichbare Zahlen

In den Pressemitteilungen der Polizei Köln in Bezug auf den Karneval 2015 (hier und hier) ist von keinem einzigen Sexualdelikt die Rede. Das heißt natürlich nicht, dass es keine sexuellen Übergriffe gegeben hätte, sondern nur, dass keine zur Anzeige gebracht wurden.

Der Frauennotruf Köln organisierte für Dienstagabend eine Demo gegen Frauengewalt und Rassismus. Hintergrund ist die Hetze in den Medien und sozialen Netzwerken im Internet gegen Flüchtlinge aufgrund der Ausschreitungen in Köln. Rechte Gruppierungen rufen für Donnerstag zu einer rassistischen Demo gegen Flüchtlinge auf.

Frauen drei Schritte zurück

Am Dienstag bat die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker den Kölner Polizeipräsidenten Wolfgang Albers sowie den Präsidenten der Bundespolizeidirektion Sankt Augustin Wolfgang Wurm zu einem Gespräch. Im Mittelpunkt der Beratung stand der anstehende Kölner Karneval, und wie das Risiko der Wiederholung solcher Vorkommnisse reduziert werden könne.

Dabei wurde ein Verhaltenskodex - insbesondere für Frauen - festgelegt: "Dazu soll es etwa 'Verhaltensregeln' für junge Frauen und Mädchen geben, 'damit ihnen solche Dinge nicht widerfahren', sagt Reker mit Bezug auf die sexuellen Übergriffe in der Silvesternacht.

Es gebe bereits einen Verhaltenskatalog, der nun aktualisiert würde und bald online abrufbar sein wird. Zu den Regeln gehöre es, zu Fremden eine Armlänge Distanz zu halten, innerhalb der eigenen Gruppe zu bleiben und sich von dieser nicht trennen zu lassen, im Notfall konkret Umherstehende um Hilfe zu bitten und als Zeuge einzugreifen oder die Polizei zu informieren.

Eine Armlänge Abstand inmitten einer Menschenmenge von mehreren hundert oder tausend Personen - das klingt nach einem guten Plan.

Schön, dass dann wenigstens die Verantwortlichkeiten geklärt werden konnten. Am besten bleiben "junge Frauen und Mädchen" ganz zuhause, "damit ihnen solche Dinge nicht widerfahren". Das scheint sich bis zu Frau Reker noch nicht rumgesprochen zuhaben, aber auch älteren Frauen "widerfahren" durchaus "solche Dinge". Aber die können ja auch gebührend Abstand halten, oder, noch besser, gleich zuhause bleiben …