"Wir brauchen einen aggressiven Humanismus"

Aktionskünstler Philipp Ruch über die deutsche Flüchtlingspolitik, Gratismut und das Streben nach Humanität

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Philipp Ruch, geboren 1981, ist Politologe und künstlerischer Leiter des Zentrums für Politische Schönheit. Das von ihm 2008 gegründete Zentrum versteht er als "Sturmtruppe zur Errichtung moralischer Schönheit, politischer Poesie und menschlicher Großgesinntheit." Die öffentlichen Aktionen des Zentrums sind spektakulär und sollen wachrütteln. Von Ruch ist gerade das Buch erschienen: "Wenn nicht wir, wer dann?", das er als politisches Manifest verstanden wissen will. Im Gespräch mit Telepolis erklärt Ruch, warum er die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung für gescheitert hält, was ihn an Online-Petitionen und Lichterketten stört - und weshalb es an der Zeit ist, Wahlenthaltungen persönlich zu nehmen.

Herr Ruch, gibt es einen Innenminister in Deutschland, dessen Rücktritt Sie nicht fordern?

Philipp Ruch: Nein, alle entlassen, und zwar sofort! Und bitte ersetzen durch Syrer. Denn viele derer, die aus ihrer Heimat geflüchtet sind, haben alle fachlichen Qualitäten, die man sich von einem humaneren Innenministerium wünscht. Zum Beispiel ein Bewusstsein für die Chancen der Integration.

Sie sprechen stets von "den Politikern"...

Philipp Ruch: Na klar!

Und Sie beschimpfen sie gern.

Philipp Ruch: Unbedingt!

Trotzdem betonen Sie, Ihnen gehe es nicht um Provokationen.

Philipp Ruch: Schlingensief sagte Veranstaltungen ab, wenn deren Organisatoren ihn ankündigten mit: "Schlingensief, der große Provokateur". Diese blödsinnigen Etiketten haben ihn unheimlich genervt. Das kann ich gut verstehen.

Weshalb differenzieren Sie dann nicht?

Philipp Ruch: Das würde ich sehr gern tun, aber leider geht das nicht. Die Realität ist düster. Ich war kürzlich wieder im Bundestag - das war grausam, ein Armutszeugnis. Wer den Nährboden für Kleingeistigkeit sucht, sollte genau dorthin gehen. Die Mitglieder der Bundesregierung sind Verwalter des Status quo. Keiner von denen ist es gewohnt, unkonventionell zu denken oder seine Fantasie anzuschmeißen. Keiner von denen hat eine Vorstellung davon, wie unsere Gesellschaft in Zukunft aussehen könnte. Nicht ich provoziere, sondern die derzeitige politische Führung ist die reinste Provokation. Diese Gleichgültigkeit im Land ist grauenvoll und gefährlich.

Philipp Ruch. Bild: ZPS

Sie schreiben in Ihrem Buch, die Macht von Visionen werde notorisch unterschätzt.

Philipp Ruch: Ja, leider sehen wir zurzeit überall staubtrockene Seelen, die uns Politik vorspielen. Denken Sie an unseren Bundesinnenminister, der immer noch im Amt ist. Ein echter Kinderschreck! Jedes Kleinkind läuft weg, wenn es den Kerl erblickt.

Sie fordern Visionen - wie sehen Ihre aus?

Philipp Ruch: Der wichtigste Schritt, um das Verbrechen an unseren Außengrenzen zu beenden ist, allen Menschen, die auf der Flucht sind, den Kauf von Flugtickets zu gestatten. Damit wären fast alle Verbrechen, die wir als pseudozivilisierte Welt begehen, abgestellt. Es ist doch ein Irrsinn, dass wir derart vielen Menschen die Einreise verbieten. Währenddessen schwafeln unsere Politiker, sie wollten die bösen Schlepperbanden bekämpfen - wie passt das bitteschön zusammen?

Wir zwingen die Menschen in die Illegalität. Wir treiben sie in überfüllte Schlauchboote. Sie sterben direkt vor unseren Augen - und wir schauen zu. Das ist unerträglich. Wir sollten den Flüchtlingen gestatten, in Würde zu uns zu kommen. Derzeit passiert leider das Gegenteil, selbst Grünen-Politiker sprechen mittlerweile von "Begrenzungen".

Sie meinen Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer?

Philipp Ruch: Ein Riesenproblem! Ähnlich wie die traurigen Gestalten Göring-Eckhardt und Özdemir, die der CDU seit Monaten schöne Augen machen, um sich als potenzielle Koalitionsbraut in Stellung zu bringen. Das ist feige und schäbig. Diese Schleim-Politik führt nicht zur Macht, sondern in den Abgrund. Es bringt ihnen nichts, wenn sie weiter versuchen, eine bessere CDU zu imitieren. Würde die grüne Parteiführung nicht ständig daran arbeiten, mit nahezu allen Mitteln ihre Macht zu sichern, wären wir einen Schritt weiter. Nur nebenbei: Worin unterscheiden sich Katrin Göring-Eckhardt und Angela Merkel? Die eine war zwar noch auf Lesbos, aber so richtig betroffen sah sie mir nicht aus. Jedenfalls tut sie nichts gegen das Massensterben.

Frau Göring-Eckhardt sagte...

Philipp Ruch: ...werde ich jetzt womöglich doch zum Göring-Eckhardt-Fan? (lacht)

Sie forderte zuletzt in einem Gastkommentar in der Neuen Zürcher Zeitung einen Neustart in der Flüchtlingspolitik. "Ich will nicht mehr an einem steinigen Stück europäischer Küste stehen und mich für ein Europa schämen müssen, das nicht da ist, wenn wir es brauchen", schrieb sie.

Philipp Ruch: Das klingt toll. Es gehört in die Kategorie der großen Sonntagsreden. Da werden Humanität und Menschenrechte - mal wieder - stolz beschworen und Neustarts gefordert. Aber wo sind die Taten? Dann soll Frau Göring-Eckhardt doch mal den Farbbeutel mit in den Bundestag nehmen und ihn auf den Innenminister Thomas de Maiziere werfen, wenn sie von der Dringlichkeit der Mission eines "Neustarts" überzeugt wäre. Was genau tut die nette Katrin, um für ihre Überzeugungen einzustehen?

"Heute ist es das höchste der Gefühle, irgendwo eine Online-Petition zu unterzeichnen"

Da passt ein Zitat von Ihnen: "Was in Syrien und den europäischen Außengrenzen geschieht, das sind Ausnahmezustände der Humanität. Da kann man nicht einfach in der Fußgängerzone stehen und Prospekte verteilen." Herr Ruch, man könnte den zweiten Satz auch ersetzen durch: Da kann man nicht einfach vor dem Bundestag stehen und Bomben-Attrappen aufbauen.

Philipp Ruch: Ja, das waren die unbenutzten Bomben, die wir nicht eingesetzt haben, als in Srebrenica 40.000 Zivilisten vor der Vernichtung standen. Wir haben die Bomben dem Bundestag direkt vor die Füße gelegt. Es gibt in Deutschland derart viel Gratismut, da muss einem schlecht werden: Mahnwachen, Lichterketten bilden, Kerzen anzünden, dieser ganze halbherzige Blödsinn.

Wir müssen für unsere Überzeugungen endlich wieder einstehen und dafür einstehen, dass es rote Linien gibt, die nicht übertreten werden. Wenn pro Woche mehr Menschen an unseren Außengrenzen sterben als in der gesamten Zeit des Kalten Krieges am Eisernen Vorhang, dann ist das eine dieser roten Linien. Wir brauchen einen aggressiven Humanismus.

Ohne Aggressivität geht es nicht?

Philipp Ruch: Ich erinnere an die Menschen, die im Kampf gegen Hitler bereit waren, für ihre Überzeugung zu sterben. Die Weiße Rose wird heute gerne als urchristlicher Verein hingestellt. Nur dass deren Sätze nicht dazu passen: "Jetzt, da man die Nationalsozialisten erkannt hat, muß es die einzige und höchste Pflicht, ja heiligste Pflicht eines jeden Deutschen sein, diese Bestien zu vertilgen." Wer die Flugblätter auch nur oberflächlich studiert, versteht sogleich, dass die Lösung des Problems für die Verfasser nicht darin bestand, lediglich kannibalistische Phantasien zu verbreiten. Heute ist es das höchste der Gefühle, irgendwo eine Online-Petition zu unterzeichnen. Menschen glauben allen Ernstes, das würde etwas ändern. Ein Brief an Putin oder Assad ist zu wenig. Das können wir uns echt schenken.

Hassen Sie die Menschen, die sich nicht für Politik interessieren?

Philipp Ruch: Nein, ich interessiere mich sogar verstärkt für sie. Ich selbst habe relativ lange gebraucht, ehe ich auf die Intensivstation des politischen Bewusstseins gefunden habe. Ich kenne das Wasserelement des Unpolitischen womöglich besser als es sich selbst. Darin geht es in meinem neuen Buch: Woran liegt es, dass Menschen das Gefühl haben "Auf mich kommt es ja eh nicht an, ich bin da nicht wichtig, interessiert mich alles nicht, sollen die da oben das doch regeln."

Wie lautet Ihre Erklärung?

Philipp Ruch: Die Vorstellungskrise, die viele Menschen erst passiv und unpolitisch macht und sie Tag für Tag aufs Neue deprimieren, nenne ich "Toxische Ideen". Sie vergiften unsere Seelen. Mir geht es darum, dem Menschen nicht ständig die niedrigsten Beweggründe zu unterstellen, sondern Humanität als eigenständigen Wert zu denken. Es ist bezeichnend, dass der wirkmächtigste Philosoph des 20. Jahrhunderts, Sigmund Freud, an keiner Stelle seines Werkes den Trieb nach Humanität, Mitmenschlichkeit oder Mitgefühl als wirkmächtigen Faktor in unser aller seelischen Geschehen ansah.

"Wir müssen Großes wagen"

Was kann das Zentrum für Politische Schönheit (ZPS) da bewirken?

Philipp Ruch: Zunächst einmal bringen wir den aggressiven Humanismus näher. Wir machen auf all die Freiheiten und Privilegien aufmerksam, die wir hier in Europa genießen. Schauen Sie sich den Geschäftsführer von Pro Asyl an! Wenn er in Talkshows redet, schläft man doch ein. Er stellvertritt eigentlich die wichtigste und dringlichste Angelegenheit des Planeten. Aber man hört irgendwie nur einem Verwaltungsangestellten zu, der über technische Details zu reden scheint.

Dasselbe gilt für die größte Menschenrechtsorganisation der Welt - Amnesty International. Sind die gegen die syrische Apokalypse eingeschritten? Versuchen sie, Assad umzubringen? Alle, die sich am Widerstand gegen Hitler beteiligt hatten, würden bei Amnesty International doch sofort rausgeschmissen.

Was folgt daraus für Ihre Arbeit?

Philipp Ruch: Schaut man sich die Geschichte der Menschheit an, findet man sehr, sehr viele gute Taten, die alle eines gemeinsam haben: sie wurden von Einzelnen begangen. Akte moralischer Schönheit vermittelt die Politik leider nur selten - ihr fehlt es elementar an Schönheit und Visionen.

Hinzu kommt, dass in den meisten Medien beinahe wöchentlich eine neue Sau durchs Dorf getrieben wird. Vier Wochen lang waren es die "faulen Griechen", dann kamen - plötzlich, oho! - die Flüchtlinge, zwischendurch der Terror und schon bald wird in den Talkshows wieder mit demselben Eifer die Autobahnmaut debattiert. Allesamt abschreckende Rituale, die eine Bevölkerung eher entpolitisieren. Wie können wir es jemandem übel nehmen, wenn er sagt: "Ich will mit dem ganzen Kram nichts zu tun haben. Ich kümmere mich jetzt um mein eigenes Leben."

Welche Fragen vermissen Sie in der Debatte?

Philipp Ruch: Wofür ist die Wirtschaftspolitik überhaupt da? Was soll der ganze Reichtum, der ganze Krempel, wenn wir damit nicht den Hunger bekämpfen? Wenn wir damit nicht alles in unserer Macht stehende tun, damit Menschen lebend auf Lesbos ankommen. Wir müssen Großes wagen. Diese Zeit benötigt nichts dringender als einen Visionär vom Typus Willy Brandt. Das ist unser Staat. Dies ist unsere Politik. Und: Es ist unsere Zeit. Wir müssen uns nicht wundern, wenn sich die Gleichgültigkeit gegenüber den Muslimen, die in Syrien vernichtet werden, irgendwann rächt.

Können Sie das genauer erklären?

Philipp Ruch: Mit einer geschickten Propaganda schafft es ein Terrornetzwerk, Menschen davon zu überzeugen, in den Kampf zu ziehen. Sie propagieren, dem Westen seien die Muslime egal. Da ist sogar etwas Wahres dran. Es ist für den "Islamistischen Staat" relativ simpel, dieses Argument zu drehen und für sich zu nutzen. Wir haben uns geschworen: Nie wieder Auschwitz. Wenn aber jetzt keine Juden, sondern Araber sterben, schauen wir weiter zu und betreiben Alibi-Politik.

Sind Sie Nichtwähler?

Philipp Ruch: Nein, ich heiße nicht Harald Welzer. Ich gehöre zu den Intellektuellen, die noch wählen gehen. Mich ärgert es vor jeder Wahl, wie leidenschaftslos und pampig die Parteien uns ihre öden Programme hinhalten. Diese politischen Laiendarsteller sind die größte Gefahr für unsere Demokratie, sie unterhöhlen ihr Potenzial.

Was ist denn so schwer daran, Bürger für eine Idee zu begeistern und ihnen das Gefühl zu geben, dass es um etwas Bedeutsames geht? Wo ist das größte Thema unserer Zeit: das Streben nach Humanität? Noch nie hatten Gesellschaften so viele Mittel an der Hand, um Menschenleben zu retten. Aber unsere Politiker verteilen Schlaftabletten.

Bereuen Sie einen Satz wie "Das Kanzleramt wird brennen, sollte es sich gegen den Willen des Volkes wenden"?

Philipp Ruch: Nein, wieso?

Das klingt bedrohlich und erinnert, mit Verlaub, an Pegida und Co.

Philipp Ruch: Naja, wir streben nach politischer Schönheit, da gibt es keine Verwechslungsgefahr.

Worin besteht denn der Unterschied?

Philipp Ruch: Mit dem Satz meinte ich, dass unsere Gesellschaft auf eine Eskalation zusteuerte zwischen dem Willen der Zivilgesellschaft und dem der herrschenden Elite. Frau Merkel hat es Anfang September sehr geschickt gemanagt, das Szenario "Bornholmer Straße am 9. November 1989" für das Kanzleramt zu vermeiden. Hätte sich die Bundeskanzlerin im September gegen die Hilfsbereitschaft der Zivilgesellschaft gestellt, wäre sie von den geschichtlichen Ereignissen schlicht überrannt worden.

Der Willen der Bevölkerung war das reinste Streben nach Zivilität und Anstand. Selbst die rückständigsten Gesellschaften der Erde kennen das Gebot, Menschen zu helfen, wenn sie in Not sind. Wenn jemand versucht, das durch Abschottungspolitik zu torpedieren, kann er schnell zu jenen Polizisten am Grenzübergang der Bornholmer Straße am 9. November 1989 werden.

Weshalb gründen Sie keine Partei?

Philipp Ruch: Weil der geistige Urvater der politischen Aktionskunst in Deutschland, Christoph Schlingensief, etwas aufgestellt hat, an dem man nicht so leicht vorbeikommt: die "Chance 2000". Er enttarnte politische Mechanismen, und jedem, der ihm vorwarf, es handele sich dabei um eine Spaßpartei, schmetterte er entgegen, die wahren Spaßparteien säßen im Bundestag. Er schaltete leere Werbeanzeigen in den Zeitungen, über denen stand: "Tragen Sie die Forderungen bitte selbst ein". Ein Meilenstein in der Geschichte der Aktionskunst. Wir wagen uns an dieses Erbe nur dann heran, wenn wir eine Idee haben, die "Chance 2000" übertreffen könnte. Kopieren ist nicht so unsere Sache.

Herr Ruch, fühlen Sie sich nicht ständig überfordert und haben ein schlechtes Gewissen?

Philipp Ruch: Ich verstehe, was Sie meinen: Es brennt in so vielen Regionen, nicht nur in Syrien. Da könnte man auch sagen: "Warum tun Sie nichts für Nigeria oder Somalia?" Man kann sich nicht jedem Problem widmen, sondern entwickelt mit der Zeit Tunnelblicke. Wichtig ist, dass man das, was man ausgewählt hat, mit aller Konsequenz und Entschlossenheit angeht. Jeder muss seine Kräfte bündeln.

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