Odyssee im Wildraum

Bild: Twentieth Century Fox

Sehnsucht nach Barbarei: Alejandro González Iñárritus Anti-Western "The Revenant" ist ein unangenehmer Film, aber ein Film, den man nicht vergisst

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Ächzen, Stöhnen, Röcheln, Aas fressen. Rinde essen. Gras essen. Knochen vom Aas aussaugen. Blut trinken, anschließend auskotzen. Blut und Gedärme aus einem Pferdekadaver schneiden. Nackt in den Pferde-Kadaver kriechen.

Bild: Twentieth Century Fox

Man sieht in diesem Film, wie Köpfe gespalten, Kehlen zerfetzt, Menschenleiber aufgerissen werden. Man sieht, wie ein Bär einen Menschen halb zerfleischt. Man sieht, wie ein Mensch erwürgt wird. Einem Mann werden die Hoden abgeschnitten. Ein Mensch blutet gleichzeitig aus einem Dutzend Körperöffnungen. Ein halbskalpierter Mann. Ein Messer in einem lebendigen Kopf. Ein Beil in einem lebendigen Rücken. Blutsudelkino und Hässlichkeitsfeier a la Alejandro González Iñárritu.

"Ist" so der Mensch? Ja, klar. Nein, natürlich nicht. Aber er will sich heute gern so sehen. Warum? Das ist die interessante Frage.

Zum Wesen des wahren Abenteuers gehört, dass es so ziemlich das Gegenteil eines Abenteuerurlaubs ist. Kein Thermomix, kein Schlafsack im "Black Canyon"- oder "Mumien"-Schnitt, auch kein Hagebuttentee hilft hier der Hauptfigur des Films beim Überleben, noch nicht einmal jene Bärentatzen - die in der Erinnerung eines jeden Karl-May-Lesers in den Büchern des sächsischen Phantasten als Leibgericht vom Sam Hawkins verklärt wurden - gibt es hier. Jedenfalls nicht als Abendmahlzeit, eher schon in die Fr... .Es ist arschkalt und nahrungsarm im Herbst von South Dakota.

Bild: Twentieth Century Fox

Dafür ist der Film mit zweieinhalb Stunden viel zu lang. Er könnte gut eine Stunde kürzer sein, ein schlanker 85-Minuten-B-Film, dann wäre alles gut. So ist das ein Film, der seine Bedeutung auch in seiner Länge und Breite vor sich herträgt, und der sich viel zu wichtig nimmt. Der ein großer "Ich-bin-ein-Oscar-Favorit-Film" sein möchte.

Dies ist ein Film, der die Wahrheit, die er behauptet, etwas zu deutlich ausstellt, der seinen Naturalismus zu einem Hyper-Naturalismus steigert. Sein Held ist mehr ein transzendental warrior und ein Rambo als ein Westerner und Frontier-Man, aber natürlich würde der Film nicht funktionieren, wenn er nicht bei den zahlreichen Freunden wie Feinden Amerikas als archetypisches, quasi-mythisches Portrait "der Wahrheit", also des Wilden Westens "wie er wirklich war" wahrgenommen werden würde. Ein Film, der sich in die Americana, die fortwährende Erzählung des ewigen Amerika, (also eigentlich nur der Vereinigten Staaten des Nordens), einschreibt.

Die Natur ist nicht freundlicher als die Menschen

Kalt ist der Wald und eng der Horizont. "Its ok, son, I am right here. Breath, breath further", nuschelt eine Stimme aus dem Off. Ein Rückblick, schlafwandlerisch, dazu Atem-Geräusche. Eine Handvoll Männer auf der Elch-Jagd. Es wird ein Jagd-Film bleiben, bis zum Ende.

Alles beginnt fast wie ein Werk von Terrence Malick - mit einem Monolog aus dem Off: Die philosophische Meditation eines Menschen inmitten übermächtiger Natur. Dann kommt es zu einer der wenigen wuchtigen Action-Szenen dieses seltsamen, absonderlichen Western-Films, der eigentlich eher ein Anti-Western ist.

Eine Gruppe von Trappern, die in den zwanziger Jahren des 19.Jahrhunderts nach kostbaren Fellen jagen, wird hoch im kalten, ganzjährig winterlichen Norden des amerikanischen Kontinents von Indianern überfallen. Die kennen kein Pardon. Pfeile schießen aus allen Richtungen, töten Männer, setzen Unterstände in Brand.

Von über 40 Männern überleben nur etwa zehn. Per Boot und zu Fuß fliehen sie zurück in vermeintlich sichere Gefilde. Die Natur ist hier nicht freundlicher als die Menschen. Es ist eisig und unwirtlich, es gibt kaum etwas zu essen, dafür wilde Tiere, die die Menschen jagen.

Bild: Twentieth Century Fox

Geleitet wird dieser Trupp der Versehrten von dem erfahrenen Hugh Glass. Der ist ein Scout, der jahrelang bei Indianern lebte, und der von seinem halbwüchsigen Sohn begleitet wird, einem Halbblut. Leonardo DiCaprio spielt diesen Hugh Glass, die Hauptfigur des Films, dessen Personal fast durchweg nach historischen Vorbildern konstruiert worden ist.

Der Film beschreibt ein zentrales Ereignis in der Geschichte der Eroberung des Wilden Westens: Das Schicksal der Rocky Mountain Fur Company, ihres Kommandeurs, Captain Andrew Henry und besonders ihres Scouts Hugh Glass, der 1971 bereits das Vorbild für den bekannten Spätwestern "Der Mann, den sie Pferd nannten" abgab, wo er von Richard Harris gespielt wurde.

Bild: Twentieth Century Fox

Die Einzelheiten der Filmhandlung sind dabei keineswegs historisch. Sie gehen vielmehr zurück auf den Bestseller von Michael Punke, dem die amerikanische Literaturkritik einen gewissen Exploitationcharakter zuschreibt. Nach allem, was über dieses Buch zu erfahren ist, macht Regisseur Alejandro González Iñárritu das Beste aus der Vorlage.

Der Mensch ist das bessere Raubtier

Nach dem Überfall glaubt die Gruppe der Überlebenden, dass es das Sicherste sein würde, einen neuen Weg über Land zu suchen. Schon früh sind Glass und sein Sohn aber dem Rassismus einiger anderer Überlebender ausgesetzt, die vor allem dem Halbindianer nicht trauen: "Wir sind ein Haufen leichte Beute, und Du und Dein Halbblut-Sohn, ihr lasst uns dann im Stich?"

Bald darauf wird Hugh von einem Grizzlybären angefallen. Neben dem oben erwähnten Überfall ist dies die vielleicht beste, jedenfalls die originellste Szene. Denn der Bär ist nicht einfach ein böses Vieh, sondern ein Wesen, das erst einmal sein Opfer niederstreckt, dann neugierig, schleckt schnüffelt, schnauft, sabbert, dann nochmal reinbeißt, dann sich erstmal von dannen macht, um dann wieder zu schnaufen, zu sabbern, zu schlecken, zu schnüffeln, dann wieder zu beißen...

Bild: Twentieth Century Fox

Hugh tötet ihn trotzdem oder gerade wegen dessen spielerischer Inkonsequenz. Der Mensch beherrscht das Handwerk des Tötens offensichtlich besser als das Raubtier. Schwer verletzt, mit diversen offenen Wunden, und aus allen möglichen und unmöglichen Körperöffnungen blutend bleibt Hugh am Leben. Er wird irgendwie notdürftig zusammengeflickt, ohne Narkose natürlich, blutet weiterhin, scheint chancenlos. Nun muss sich die Gruppe aufspalten. Hughs Sohn und zwei weitere bleiben zurück, sollen Hugh beim Sterben begleiten. Kurz darauf wird Hughs Sohn von dem Trapper John Fitzgerald ermordet und Hugh selbst für tot geglaubt zurückgelassen.

Doch auch Hass und Rache sind Überlebensmittel. Kaum zu glauben, aber Hugh gelingt es, sich aus dem Grab zu befreien und - mit gebrochenem Bein und einer Vielzahl von Wunden - einen Weg zurück in die Zivilisation zu suchen. Die weitere Handlung erzählt dann von Hughs schier unglaublichem Überlebenswillen und seinem Weg, bis es ihm gelingt, den Mord zu rächen und Fitzgerald zu töten.