Türkei: US-Regierung beunruhigt über Erdogan

"Besuch in Cizre", 15. September 2015 Bild: Rebecca Harms/CC BY-SA 2.0

Die Bundesregierung schweigt sich aus zum Vorgehen der türkischen Regierung gegen die Kurden

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In diplomatischen US-Kreisen mehrt sich die Kritik an Erdogans Krieg gegen die kurdische Bevölkerung. Die Bundesregierung hüllt sich nach wie vor in Schweigen, obwohl nun auch die konservativ-liberale Presse von einem Krieg der türkischen Regierung gegen die eigene Bevölkerung spricht.

In einem Kommentar für die irakisch-kurdische Nachrichtenagentur Rudaw schreibt David Romano, dass in Washington mittlerweile die Alarmglocken klingeln, wenn es um Erdogan geht. Zwar erhalte man diesbezüglich keine offiziellen Stellungnahmen - Washington gehe hier "auf Eierschalen" -, allerdings gebe es "private Warnungen" von amerikanischen Diplomaten und Vorwürfe hinter den Kulissen.

Washington versuche zwar nach wie vor, Erdogan und seine Regierung freundlich zu einem anderen Kurs zu bewegen, aber wenn es gegenwärtig eine neue WikiLeaks-Enthüllung geben würde, so David Romano, würde die Öffentlichkeit angesichts der vielen kritischen Depeschen von amerikanischen Diplomaten, die in der Türkei leben, sehr beunruhigt sein. Der vorsichtige Umgang mit der türkischen Regierung sei gescheitert, so sein Fazit. Diese Regierung wird in der Kurdenfrage keine Probleme lösen, sondern sie verstärken.

Beleidigung von US-Diplomaten

Dabei hätte Washington genug Gründe, öffentlich einen anderen Ton anzuschlagen: Schon im Mai letzten Jahres verhöhnte Ankaras AKP-Bürgermeister Melih Gökcek die Sprecherin des US-Außenministeriums, Marie Harf. Auf Twitter schrieb er: "Wo bist du, dumme Blondine, die der türkischen Polizei einen unangemessenen Einsatz von Gewalt vorwirft?" Und: "Komm schon, Blondchen, antworte jetzt!" Die Sprecherin hatte 2013 wiederholt das Vorgehen der Polizei gegen die Gezipark-Proteste kritisiert.

Auf türkische Beleidigungen von US-Diplomaten reagieren offizielle Stellen bislang eher amüsiert denn brüskiert, ein Zeichen für den Eiertanz der US-Regierung.

Obama fordert Abzug der türkischen Truppen aus dem Nordirak

Klare Worte sprach Präsident Obama mit seiner erneuten Forderung, die Türkei möge ihre Truppen aus Bashika im Nordirak abziehen. Noch am 8. Januar ließ Erdogan melden, dass IS-Militante die dort stationierten türkischen Einheiten angegriffen hätten und dabei 3 Soldaten, sowie 18 IS-Militante getötet wurden.

Dem widerspricht der Peschmerga-Sprecher Hamid Efendi in Rudaw-TV. Er spricht von einer Lüge, denn es habe keinen Angriff des IS auf das Camp gegeben. Die türkischen Truppen würden nicht gebraucht, die Peschmerga könnten selbst für die Sicherheit sorgen.

Vermehrte Kritik in deutschen Medien an Erdogans Politik

Auch in Deutschland mehren sich kritische Stimmen, nunmehr auch aus dem konservativ-liberalen Lager. Die Bundesregierung ignoriert diese Warnungen vor neuen Massakern nach wir vor. Hier eine Auswahl der letzten Tage:

Die Tagesschau berichtet am 6. Januar 2016 über die Verzweiflung der Menschen in Cizre und dass die Zivilisten, meist Frauen und Kinder, die Leidtragenden seien. Ein drei Monate altes Baby könne doch kein PKK-Terrorist sein.

In "Der verschwiegene Krieg macht der Deutschlandfunk darauf aufmerksam, dass türkische Medien über die Situation in Diyarbakir und die Manipulation der Presse schweigen und die Regierung "Medienvertretern, Anwälten, NGOs und gar Ärzten jeglichen Zugang zu den umkämpften Vierteln verbieten".

Die Welt kritisiert die Haltung der Bundesregierung in Bezug auf Erdogan und die Flüchtlingsfrage. Sie stellt das Schweigen der Bundesregierung zum Terror der türkischen Regierung gegen die kurdische Bevölkerung in den Kontext des gesamten Flüchtlingsproblems.

Auch die FAZ rügt das Schweigen der Bundesregierung und der EU und fordert dazu auf, Erdogan endlich Einhalt zu gebieten.

Tägliche Berichte der kurdischen und kritischen türkischen Medien über Menschenrechtsverletzungen

Derweil gehen die Angriffe auf die Zivilbevölkerung weiter. Speziell in Nusaybin wird eine neue Welle von Angriffen erwartet, nachdem das türkische Militär Anfang Januar das 5 km von Nusaybin entfernte staatliche Flüchtlingscamp für ezidische Flüchtlinge räumen ließ und zum Militärcamp erklärte

In Sirnak wurden die Angehörigen der Getöteten angewiesen, die Leichen innerhalb von drei Tagen aus dem Forensischen Institut oder den Moscheen zu holen, andernfalls würden sie von den Behörden begraben. Nur, wie sollen die Angehörigen angesichts der Ausgangssperre und der Scharfschützen ihre Leichen abholen?

Nach der türkischen Nachrichtenplattform Siyasi Haber seien in Silvan und im Viertel Diyarbakir Sur an den Wänden vermehrt Parolen der Esedullah Timi (Spezialeinheiten) zu lesen. Bewohner berichten darüber hinaus, dass in diesen Einheiten bärtige Männer operierten, die arabisch und nicht türkisch sprachen. Agiert etwa der IS in direkter Zusammenarbeit mit den türkischen Spezialeinheiten?

Wo sie herkommen könnten, schreibt Siyasi Haber am 9.1.2016: Berichten aus der vom IS besetzten nordsyrischen Stadt Manbij zufolge hat der lokale IS-Kommandeur Sadiq El-Sadiq verlautbaren lassen, dass es eine Spezialeinheit des IS mit dem Namen "Esedullah Timi" gebe. Er habe aber keinen Einfluss auf die Gruppe, da sie unabhängig von sonstigen Befehlsstrukturen agiere.

Bilder über das Ausmaß der Zerstörung in den kurdischen Städten finden sich im Blog style-berlin. Von Juli bis Dezember gab es unter den Opfern 58 Kinder.

Sorge um Öcalan

Offensichtlich will die türkische Regierung die Situation zusätzlich auf die Spitze treiben, indem sie die Isolationshaft von Öcalan weiter verschärft. Die Informationsstelle Kurdistan (ISKU) meldet, dass es seit Monaten kein Lebenszeichen von Abdullah Öcalan gibt. Nach der Verlegung von vormals im gleichen Gefängnis Inhaftierter von Imrali nach Istanbul wächst die Sorge um Öcalan.

Seit Juli 2011 hat er seine AnwältInnen nicht gesehen, seit Oktober 2014 dürfen sein gesetzlicher Vormund und seine Familie die Insel nicht betreten, und seit April 2015 konnte ihn auch die politische Delegation aus HDP-Abgeordneten nicht mehr sehen, nachdem der türkische Präsident Erdogan die Gespräche mit Öcalan und der PKK abgebrochen hatte. Die anderen Gefangenen auf Imrali Island unterliegen denselben Beschränkungen. Das bedeutet: seit April 2014 gibt es keinerlei unabhängige Information von der Insel Imrali. Buchstäblich alles kann dort passieren oder passiert sein.

Es sieht vieles danach aus, dass die türkische Regierung jetzt eine endgültige Lösung der Kurdenfrage in ihrem Sinne sucht. Sie will anscheinend die ultimative Auseinandersetzung mit der PKK und sucht nach einem Vorwand, um noch härter gegen die Menschen in den kurdischen Gebieten vorzugehen. Die Drohung des Bürgermeisters von Adana würde sich dann wo möglich bewahrheiten:

Ihr werdet so enden wie die Armenier.

Fragen an die Bundesregierung

Angesichts der zunehmenden Eskalation in einem Nato-Staat vor unserer Haustür hat die Öffentlichkeit das Recht, von der Bundesregierung Antworten auf einige Fragen zu erhalten:

  • Warum schweigt die Bundesregierung nach wie vor zu den eklatanten Menschenrechtsverletzungen in der Türkei?
  • Warum wird die deutsche Öffentlichkeit nicht darüber informiert, wohin die 3 Milliarden € Flüchtlingshilfe für die Türkei genau fließen?
  • Wie und an wen wird das Geld transferiert?
  • Wie wird sichergestellt, dass das Geld auch wirklich bei den Flüchtlingen ankommt?
  • Warum wird dieses Geld nicht dem UNHCR übertragen mit dem Auftrag, auch die nichtstaatlichen Flüchtlingslager im Südosten der Türkei zu versorgen? Schließlich leben in den staatlichen Flüchtlingslagern nur 250.000 der in den türkischen Medien genannten 2 Millionen Flüchtlingen.

Wie in den USA wissen auch unsere Politiker von CDU/CSU, SPD und Grünen bis hin zur Linken, was tatsächlich in der Türkei täglich passiert. Es wird darüber auch kritisch diskutiert, allerdings nur hinter verschlossenen Türen.

Erdogan wird als unberechenbar eingeschätzt, aber im Moment wird er angeblich wegen der Flüchtlingskrise gebraucht.

Wenn der Ochse den Thron besteigt, wird aus ihm noch kein Sultan. Aber der Palast wird dann zum Stall.

In der heutigen Türkei oft benutztes tscherkessisches Sprichwort

Es gibt Kritiker, die immer wieder formulieren, kritische Berichterstattung würde die Türkei und damit auch die türkischen Bevölkerung verunglimpfen. Dabei geht es um eine kritische Auseinandersetzung mit der türkischen Regierungspolitik. Die türkische Bevölkerung ist selbst Opfer fehlender Information und von Hetzpropaganda.

Der Westen der Türkei interessiert sich relativ wenig dafür, was im Südosten der Türkei passiert. Die jahrzehntelange Gehirnwäsche und Assimilierungspolitik, die Ausgrenzung der Kurden als "Bergtürken" hat dazu geführt, dass sich große Teile der türkischen Bevölkerung nicht mit den Kurden im Südosten der Türkei identifizieren.