Der Helicobacter-Stamm und die Besiedlungsgeschichte Europas

Rekonstruktion des Aussehens des Ötzi nach wissenschaftlichen Erkenntnissen (von Adrie und Alfons Kennis). Foto: South Tyrol Museum of Archaeology, Foto: Ochsenreiter

Im Magen der mehr als 5.000 Jahre alte Eismumie Ötzi wurde ein Helicobacter-Stamm gefunden, der fast vollständig der Variante aus Zentral- und Südasien entspricht

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Die 1991 zufällig von Touristen hoch in den Ötztaler Alpen gefundene Eismumie mit dem Spitznamen "Ötzi" liegt in einer eigens für sie eingerichteten Kältekammer mit Befeuchtungsautomatik im Südtiroler Archäologiemuseum in Bozen, und wird von Spezialisten aus verschiedenen Fachdisziplinen vorsichtig und unter weitgehender Vermeidung von Zerstörung erforscht, um möglichst viele Einblicke in die Lebenswelt unserer Vorfahren in der Jungsteinzeit zu erhalten. Er ist eine Art tief gefrorene Zeitkapsel, durch ihn öffnet sich ein Fenster in den Alltag der Vergangenheit vor mehr als 5000 Jahren.

Ötzi verbrachte sein Leben zwischen 3350 und 3100 v. Chr. südlich des Alpenhauptkamms, seine letzten Jahre verlebte er im Vinschgau. Der Mann aus dem Eis - wie er offiziell heißt - war zu Lebzeiten ungefähr 1,60 m groß und ziemlich hager, er hat wohl um die 50 Kilo gewogen. Sein schulterlanges Haar, sein Bart und seine Augen waren braun. Er gehörte zu einer Bauerngemeinschaft und hatte wahrscheinlich dort eine heraus gehobene Stellung inne, denn er führte ein Kupferbeil bei sich - damals ein kostbares Statussymbol.

Er litt an diversen Krankheiten, als er im Alter von rund 45 Jahren schließlich ermordet wurde. Seine Blutgefäße waren verkalkt, seine Lungen von vielen Aufenthalten am offenen Feuer geschwärzt. Seine Zähne zeigen Spuren starker Abnutzung, wohl durch den Verzehr von viel Getreide mit dem Abrieb von Mahlsteinen, Karies hatte tiefe Löcher in den Zahnschmelz gefressen, ein Frontzahn war abgestorben und das Zahnfleisch durch fortgeschrittenen Parodontitis geschwunden.

Sein vermutlich aus therapeutischen Gründen an verschiedenen Stellen tätowierter Körper erlitt während seines Lebens verschiedene Verletzungen, darunter einen Serienrippen- und einen Nasenbeinbruch. Ein Zeh weist Zeichen von Erfrierung auf, in seinen Haaren finden sich erhöhte Arsenwerte, wohl als Resultat der Verarbeitung, bzw. Verhüttung von Kupfer.

Darüber hinaus hatte er wohl noch eine bislang nicht identifizierte chronische Krankheit, umstritten ist zudem eine mögliche Borreliose-Infektion. Genetisch wies Ötzi ein erhöhtes Risiko für Herz- und Kreislauferkrankungen auf und er hatte eine Laktose-Unverträglichkeit, konnte also keine Milch verdauen.

In seiner Kleidung wurden zwei Menschenflöhe entdeckt, die ihn gepiesackt haben. Das waren nicht die einzigen Parasiten: In seinem Darm fanden sich Eier vom Peitschenwurm. Der Mann aus dem Eis hatte einen Baumschwamm in seinem Gepäck, der einen Wirkstoff gegen solche Darmaparasiten enthält. Das Leben in der Kupfersteinzeit war kein Zuckerschlecken.

Mahlzeit

Der Darm der 13 Kilo schweren Eismumie war früh entdeckt und sein Inhalt eingehend untersucht worden. Dort fanden sich die Überreste seiner letzten Hauptmahlzeit: Er verzehrte Fleisch vom Rothirsch und wahrscheinlich einen Brei aus Einkorn und Gemüse - wobei er das Korn auch in Form von Brot zu Fleisch und Gemüse gegessen haben könnte.

Der Magen hatten sich dem Blick der Forscher dagegen viele Jahre lang entzogen. Durch den Schrumpfprozess bei der Mumifizierung hatte er sich stark verkleinert und verlagert. Da bewusst keine klassische Autopsie vorgenommen wurde, um die wertvolle Eismumie möglichst wenig zu schädigen, dauerte es bis 2010, bevor der Mageninhalt entdeckt und analysiert werden konnte.

Eduard Egarter-Vigl (links) und Albert Zink von der von der Europäischen Akademie in Bozen bei der Probenentnahme aus dem Magen des Eismanns. Foto: EURAC/Marion Lafogler

Erst danach war durch Funde entsprechender Pollen dort endgültig klar, dass Ötzi im Frühjahr oder Frühsommer getötet wurde, und dass er kurz zuvor (nicht länger als zwei Stunden vor seinem Tod) noch eine Brotzeit aus Steinbockfleisch, Getreide und Äpfeln zu sich genommen hat.

Kürzlich legte ein internationales Team aus mehr als 20 Forschern um Frank Maixner von der Europäischen Akademie Bozen/Bolzano (EURAC), Ben Krause-Kyora von der Universität Kiel, Dmitrij Turaev von der Universität Wien sowie Alexander Herbig von der Universität Tübingen nach. Sie präsentierten im Wissenschaftsmagazin Science die Ergebnisse der bakteriellen Magenanalyse des Ötzi. Der Artikel dazu ist im Internet frei zugänglich.

Als die Paläopathologen und Mikrobiologen die Proben aus dem Magen des Eismannes unter ihre Mikroskope legten, um nach Spuren von Erregern zu suchen, waren sie alles andere als zuversichtlich, tatsächlich fündig zu werden, da nichts mehr von der Magenschleimhaut vorhanden ist. Deswegen gingen sie ungewöhnliche Wege, wie Frank Maixner erklärt:

Die Idee, die Gesamt-DNA des Mageneinhaltes zu extrahieren, brachte schließlich die Lösung. Nachdem wir das Genmaterial des kompletten Mageninhaltes extrahiert hatten, konnten wir mit einer speziellen Methode die einzelnen Helicobacter-Sequenzen herausfischen und ein 5.300 Jahre altes Helicobacter pylori-Genom rekonstruieren.

Helicobacter pylori ist ein winziger, aber ziemlich übler Geselle, der den Homo sapiens seit seinem Auszug aus Afrika, seit 60.000-100.000 Jahren, als blinder Passagier im Magen begleitet und sich dabei bestens an die ätzende Umgebung angepasst hat.

Das gekrümmte Stäbchenbakterium residiert heute in ungefähr der Hälfte der Bevölkerung weltweit. Es regt die Produktion von Magensäure an und schädigt durch Giftstoffe die Magenwand. Das Spektrum des angerichteten Schadens reicht von Magenbeschwerden und Übelkeit über Magenschleimhautentzündung zu Geschwüren des Magens und des Zwölffingerdarms. Im schlimmsten Fall entwickelt sich daraus Krebs.

Umso erstaunlicher, dass der Krankheitserrreger erst 1982 von den australischen Ärzten Barry Marshall und John Robin Warren aufgespürt wurde. Die beiden bekamen dafür 2005 den Nobelpreis für Medizin.

Genom des Erregers und Wanderungsbewegungen

Die Wissenschaftlergruppe sah sich das Erbgut des Bakteriums ganz genau an und stellte fest, dass es sich um eine Form mit hoher Virulenz handelt, die in heutige Patienten Magenschleimhautentzündung hervorrufen kann. Ötzis Immunsystem hatte auf den Krankheitserreger bereits reagiert. "Wir haben ganz klare Markerproteine entdeckt, die wir von heutigen mit Helicobacter infizierten Patienten kennen", erläutert Frank Maixner.

Die Wissenschaftler pflegen einen sehr vorsichtigen Umgang mit dem Mann aus dem Eis , der ihnen einmalige Einsichten in die Menschheitsgeschichte ermöglicht. Foto: EURAC/Marion Lafogler

Wie krank der Eismann tatsächlich war, lässt sich nicht genau sagen, aber wahrscheinlich hatte er Magenbeschwerden und es könnte gut sein, dass er unter Geschwüren litt.

Spektakulär ist zudem die Entdeckung des Forscher-Teams, dass der Helicobacter-Stamm in der Mumie fast vollständig der Variante aus Zentral- und Südasien entspricht. Das widerspricht gängigen Vorstellungen der frühen menschlichen Wanderungsbewegungen nach Europa. Alexander Herbig erklärt:

Wir sind davon ausgegangen, dass der Stamm der Gletschermumie den heutigen europäischen Stämmen ähnelt, doch verschiedene Analysen lieferten das gleiche Ergebnis - die Verwandtschaft ist zu den asiatischen Stämmen am größten.

Ötzis Magen-Bakterium stützt jene Theorie, wonach frühe Einwanderer aus Asien bei der Besiedlung Europas eine zentrale Rolle gespielt haben. Bild: Südtiroler Archäologiemuseum/Central Hospital Bolzano/EURAC/Marco Samadelli-Gregor Staschitz.

Der Magen-Plagegeist wird meist innerhalb der Familie von Generation zu Generation weitergegeben und lässt so direkte Rückschlüsse auf den Stammbaum zu. Über welche Wege und zu welchen Zeiten verschiedene Siedlungswellen nach Europa kamen, ist immer noch nicht vollständig geklärt (Die ersten Bauern tranken keine Milch). Es bleibt spannend.

Co-Autor Johannes Krause vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena setzt auf kommende Studien zur Klärung dieser offenen Frage:

Bislang ist man davon ausgegangen, dass die neolithischen Bauern bereits die europäische Variante in sich trugen, als sie Europa besiedelten. Da Ötzi als früher Bauer aber die asiatische Variante beherbergte, muss es nach Ötzi eine weitere Einwanderung nach Europa gegeben haben, von Menschen, die die heutige europäische Variante des Erregers mitbrachten. Die Besiedlungsgeschichte Europas ist sehr komplex und wird auch in der Zukunft immer wieder mit neuen Erkenntnissen überraschen.