"Deutschland tritt nicht als geopolitische, sondern als geoökonomische Macht auf"

Hans Kundnani vom Marshall Funds über die Rückkehr der deutschen Frage und Deutschland als halben Hegemon

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Hans Kundnani ist Brite und arbeitet für den US-amerikanischen Marshall Funds. Aus einer "atlantischen Perspektive" beobachtet er mit großem Unbehagen, dass die Bundesrepublik Deutschland immer häufiger eigene geopolitische Pläne verfolgt. In seinem jüngsten Buch "The Paradox of German Power" argumentiert er, die "deutsche Frage" des 19. Jahrhundert sei sozusagen zurückgekehrt: ein Land in der Mitte Europas, das zu schwach ist, um den Kontinent zu beherrschen, aber zu stark, um nur gleichberechtigt mit den anderen europäischen Nationen zu sein.

Herr Kundnani, der Ton in der europäischen Diplomatie wird schärfer. Im Dezember kritisierte der italienische Premierminister Matteo Renzi Deutschland und sagte wörtlich: "Europa muss 28 Ländern dienen, nicht nur einem." Für wie stark halten Sie die Deutschen im europäischen Machtgefüge? Ist es die führende Macht, ist es isoliert?

Hans Kundnani: Die europäische Konstellation ist kompliziert. Mit Sicherheit hat Deutschland keine eindeutige Führungsrolle. Seit der Eurokrise ab dem Jahr 2010 haben wir Kommentatoren die Macht der Bundesrepublik wohl eher übertrieben. Die Flüchtlingskrise hat mich dann eines besseren belehrt. Mich hat überrascht, wie wenig Einfluss die Deutschen geltend machen konnte. Sogar ein kleines Land wie die Slowakei, wirtschaftlich völlig von Deutschland abhängig, hat sich nicht dem deutschen Druck gebeugt. Ich war aber niemals der Meinung, Deutschland sei ein europäischer Hegemon, im Gegenteil: Wenn überhaupt ist es ein halber Hegemon, ein Möchtegern-Hegemon wie das Deutsche Kaiserreich im 19. Jahrhundert.

Diesen Ausdruck eines halben Hegemons verwenden Sie schon lange. Was meinen Sie damit?

Hans Kundnani: Deutschland verfügt über gewaltige wirtschaftliche Macht und dafür über vergleichsweise wenig politisches Gewicht. Im Ausland wurde das Land oft als ein "zurückhaltender Hegemon" betrachtet, als Nation, die ihre Macht nicht wirklich ausspielt. Diese Zurückhaltung lässt mittlerweile nach. Deutschland versucht stärker, sich auch politisch zu behaupten und seine Interessen durchzusetzen, gerade auch in der Eurozone.

Was die deutsche Macht aber meiner Meinung nach auszeichnet, ist nicht so sehr dieser Gegensatz zwischen wirtschaftlicher und politischer Macht, sondern das Verhältnis von politischen Zielen und wirtschaftlichen Mitteln. Deutschland tritt nicht als geopolitische Macht auf, sondern als geoökonomische. Damit ist es in den internationalen Beziehungen ziemlich einzigartig.

Immerhin führt die Bundeswehr gerade zwanzig Auslandseinsätze durch ...

Hans Kundnani: Deutschland engagiert sich international, aber eben vor allem mit wirtschaftspolitischen Mitteln. In der Ukraine-Krise hat sich die Merkel-Regierung sehr selbstbewusst für Sanktionen ausgesprochen, aber gleichzeitig alle Schritte blockiert, die militärischen Druck aufgebaut und Russland wirksam abgeschreckt hätten. Zum Beispiel war Berlin gegen den Vorschlag Polens und der baltischen Staaten, eine dauerhafte NATO-Präsenz in diesen Ländern zu schaffen.

Sie behaupten, die sogenannte Westbindung Deutschlands würde langfristig schwächer. Welche Anzeichen sehen Sie dafür?

Hans Kundnani: 40 Jahre lang, während des Kalten Krieges, war die Westbindung für die Bundesrepublik Deutschland schlicht eine existenzielle Notwendigkeit. Das ist anders geworden. Heute ist die Westbindung, vor allem das Bündnis mit den USA, zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte eine Wahl, sie ist nicht länger alternativlos. Das bedeutet nicht notwendigerweise, dass Deutschland mit dem Westen brechen wird, aber zum ersten Mal ist eine "post-westliche deutsche Außenpolitik" überhaupt möglich.

Ein erster Vorgeschmack auf diese Außenpolitik war, dass das Verhalten Deutschlands im Jahr 2011 im UN-Sicherheitsrat enthalten hat, als die Intervention gegen Libyen unter Gaddafi auf der Tagesordnung stand: Deutschland hat mit seinen alten Bündnispartnern Frankreich, Großbritannien und den USA gebrochen und sich enthalten, zusammen mit Russland und China.

Aber die rotgrüne Regierung unter Gerhard Schröder hat doch schon früher den USA die Gefolgschaft verweigert, nämlich im dritten Golfkrieg gegen den Irak unter Saddam Hussein.

Hans Kundnani: Ja, aber die Intervention gegen den Irak war eine international viel umstrittenere Entscheidung. Damals fand ich weniger schlimm, dass Deutschland nicht mitgemacht hat, sondern die nationale, antiamerikanische Tonlage von Kanzler Gerhard Schröder. Im Fall Libyen wurde die postwestliche Haltung dann praktisch. Umfragen zeigen, dass auch die Bevölkerung gespalten in der Frage ist, ob Deutschland ein Teil des Westens ist oder doch eher ein Vermittler zwischen Ost und West. Besonders in den ersten Monaten der Ukraine-Krise haben viele Deutsche Sympathie oder Verständnis mit Russland geäußert.

Das Horror-Szenario für mich ist jetzt ein Konflikt in Asien zwischen den USA und China, nicht unbedingt ein Krieg, eine diplomatische Krise. Die Spannungen in dieser Region werden immer größer. Aber weil Deutschland wirtschaftlich so sehr von Exporten und dem chinesischen Markt abhängt - denken Sie nur an Firmen wie Volkswagen! - , wäre eine Entfremdung innerhalb des westlichen Bündnisses nicht unwahrscheinlich. Und wenn Deutschland in diese Richtung geht, könnte Europa folgen.

Deutschland muss eine antideutsche Koalition in der EU verhindern

Herr Kundnani, lassen Sie uns auf die Machtverhältnisse innerhalb Europas zurückkommen. Sie glauben, die "deutsche Frage" sei zurückgekehrt - Deutschland sei sozusagen zu mächtig für Europa.

Hans Kundnani: Von der "deutsche Frage" sprach man ursprünglich zwischen 1871 und 1945. Damals war das politisch geeinigte und wirtschaftlich aufstrebende Deutschland zu groß und zu mächtig, um in ein europäisches Gleichgewicht der Kräfte eingebunden zu werden. Andererseits war Deutschland nicht mächtig genug, um zu einem europäischen Hegemon zu werden. Damals wäre zu diesem Zweck natürlich nötig gewesen, eine Koalition feindlicher Mächte militärisch zu besiegen. Aus dieser Zeit stammt die notorische Angst der Deutschen vor einer Einkreisung, vor allem die Einkreisung durch Frankreich und Russland, vor dem, was Fürst Bismarck einst den "Alptraum der Koalitionen" nannte.

Diese klassische deutsche Frage ist in gewisser Weise zurückgekehrt, aber in geoökonomischer Form. Sicher besteht im Moment keine Kriegsgefahr in Europa, aber es existiert doch eine ähnliche Dynamik wie damals.

Aber wo sehen Sie eine solche Dynamik am Werk?

Hans Kundnani: Denken Sie an die Eurokrise: Deutschland ist zu mächtig, als dass sich beispielsweise Frankreich behaupten kann. Aber gegen eine Allianz vieler europäischer Staaten kann sich wiederum Deutschland nicht durchsetzen. Insofern muss die Bundesrepublik wieder eine antideutsche Koalition unbedingt verhindern. Wenn Italien, Spanien und Frankreich gemeinsam an einem Strang ziehen, können sie die Bundesrepublik zu einer anderen Politik zwingen. Zum Beispiel entschied in der Eurokrise im Sommer 2012 die Europäische Zentralbank unter Mario Draghi, so viele Staatsanleihen wie nötig aufzukaufen - auf Druck der Italiener und Spanier und gegen den Widerstand der Deutschen.

"Langfristig sieht es nicht gut aus mit der Europäischen Union"

Die Entscheidung fiel damals "fast einstimmig", wie Mario Draghi sagte. Die einzige Gegenstimme kam wohl von dem Präsidenten der Bundesbank, Jens Weidmann.

Hans Kundnani: Aus meiner Sicht hat Draghi die gemeinsame Währung gerettet, aber in Deutschland wurde das als politische Niederlage empfunden. Im Spiegel hieß es über den EU-Gipfel 2012, in dem über den Rettungsfonds "Europäischer Stabilitätsmechanismus" ESM entschieden wurde: "Die Nacht, in der Merkel verlor". Viele deutsche Politiker und Ökonomen kritisieren bis heute die inflationstreibende Geldpolitik der Zentralbank. Das ist die geoökonomische Variante der alten Angst vor einer Einkreisung: Die Deutschen befürchten, die sogenannten Peripherie-Länder würden die Politik der Europäischen Union bestimmen und Deutschland ihren Willen aufzwingen.

Andererseits war Deutschland in der Griechenlandkrise im Sommer 2015 durchaus in der Lage, eine Mehrheit zu organisieren. Damals kam bekanntlich der Vorschlag aus dem Bundesfinanzministerium, die Griechen sollten den Euro "zeitweise" verlassen. Lediglich die Finanzminister Frankreichs, Italiens und Zyperns wandten sich gegen den Grexit. Auch im gegenwärtigen Streit um eine europäische Einlagensicherung für Bankkunden behaupten Mitarbeiter Wolfgang Schäubles, es sei "problemlos machbar", ausreichend Länder auf die deutsche Seite zu ziehen, um das Vorhaben zu blockieren.

Hans Kundnani: Ich sehe da keine eindeutige Entwicklung. Seit der Wahl von Syriza unter Alexis Tsipras entstand in der Eurozone sozusagen eine Koalition von allen Mitgliedsländern gegen eines. Dafür gibt es einsichtige politische Gründe: Es konnte nicht im Interesse von Sozialdemokraten wie der Regierung Renzi in Italien oder der Regierung Hollande in Frankreich sein, einer Partei links von ihnen einen Erfolg zu verschaffen. Aber die langfristig entscheidende Verwerfung in Europa verläuft zwischen den Schuldner- und Geberländer. Daher wird der Druck auf die Schuldenländer wachsen, gemeinsam zu handeln - vor allem, wenn die ökonomische Krise weiterhin ungelöst und die Arbeitslosigkeit hoch bleibt.

Die zentrifugalen Kräfte in der Union nehmen immer weiter zu. Was ist Ihr Tipp - kann die Eurozone in ihrer bisherigen Form überleben?

Hans Kundnani: Das weiß ich nicht, aber insgesamt bin ich eher pessimistisch. Ich vermute, dass es in den nächsten Jahren einerseits weitere Schritte der Integration und Vereinheitlichung geben wird. Hier existieren gewisse Sachzwänge, weil die Finanz- und Migrationskrise ein koordiniertes Vorgehen notwendig macht.

Auf der anderen Seite wird es aber auch Desintegration geben, möglicherweise einen Grexit oder einen Brexit. Langfristig sieht es nicht gut aus mit der Europäischen Union. Überall wird die Euroskepsis stärker. Seit dem Einsetzen der Eurokrise verfolgen die Mitgliedsstaaten zunehmend eng definierte nationale Interessen und versuchen, Probleme und Kosten so weit wie möglich auf die anderen Länder zu verlagern. Am krassesten wurde diese Haltung wohl in der Flüchtlingskrise deutlich.

Die Europäische Union ist bis heute nicht in der Lage, sich auf ein gemeinsames Vorgehen zu einigen, um auf den Zustrom der Flüchtlinge zu reagieren. Ist diese Union überhaupt noch handlungsfähig?

Hans Kundnani: Nun, genau dasselbe würde ich von der Griechenlandkrise behaupten! Griechenland trägt nur zwei Prozent zum Bruttoinlandsprodukt der Eurozone bei, dennoch war die EU ganze fünf Jahre lang nicht in der Lage, eine Lösung zu finden. Der Kern all dieser Konflikte ist die Frage der Solidarität und der Lastenteilung. Im Fall Ukraine und Griechenland forderten die anderen EU-Länder von Deutschland Unterstützung und Solidarität. Nun verlangt Deutschland in der Flüchtlingskrise Solidarität - und die anderen sagen Nein.

"Der Versuch, eine deutsche Hegemonie zu errichten, würde in eine Katastrophe führen"

Was würden Sie also dem halben Hegemon Deutschland empfehlen?

Hans Kundnani: Es gibt für Deutschland zwei Wege. Der eine führt über den Ausgleich. Er setzt vor allem auf die deutsch-französische Achse, aber auch auf einen Interessensausgleich zwischen den großen und kleinen EU-Ländern. Der andere Weg setzt auf Dominanz. Thomas Mann hat den Deutschen einst empfohlen, sie sollten ein europäisches Deutschland anstreben anstatt ein deutsches Europa. Mittlerweile höre ich von Deutschen immer häufiger, es gebe diese Wahl überhaupt nicht mehr. Sie sagen: entweder ein deutsches Europa oder kein Europa!

Das beste Beispiel für diese Haltung ist der Politikwissenschaftler Herfried Münkler, der in seinem Buch "Macht der Mitte" argumentiert, gerade weil die Situation in Europa so chaotisch sei, müsse Deutschland eine Führungsrolle übernehmen.

Den Ausdruck "Macht der Mitte" meint Münkler allerdings durchaus im Sinne von Vermittlung. Der deutsche Hegemon soll seiner Meinung nach die Interessengegensätze der europäischen Mächte ausgleichen und Kompromisse durchsetzen.

Hans Kundnani: Ja, es geht ihm um ein Art wohlwollenden Hegemon, aber eben trotzdem um einen Hegemon! Wie gesagt, ich höre immer öfter von deutschen Bekannten, dass das Brüsseler System einfach nicht funktioniert und niemand außer den Deutschen die Führung übernehmen könne. Europa kann aber nicht von Berlin aus reagiert werden; das wird schlicht nicht funktionieren. Die wirtschaftlichen und außenpolitischen Probleme Europas müssen gemeinsam gelöst werden.

Der Versuch, eine deutsche Hegemonie zu errichten, würde in eine Katastrophe führen. Eine der Lehren aus der Geschichte ist doch, dass dieses Land Europa nicht beherrschen kann. Letztlich liegt das auch an Geographie, die, anders als in Nordamerika, in Europa keine klare hegemoniale Stellung zulässt.

Aber natürlich muss Deutschland europapolitische Entscheidungen treffen. Am schlimmsten finde ich, dass dieses Land oft so tut, als hätten seine Entscheidungen keine unmittelbaren Folgen für die anderen europäischen Länder. Das Problem ist insofern nicht der Überschuss an deutscher Macht, sondern in gewisser Weise das Gegenteil - die Weigerung, Verantwortung zu übernehmen.

Ist nicht eines der vielen Probleme Europas, dass es keine gemeinsame europäische Öffentlichkeit gibt, in der solche Fragen überhaupt verhandelt werden könnten? In der Griechenlandkrise beispielsweise lagen Welten zwischen der Berichterstattung in Deutschland und der in den anderen Ländern.

Hans Kundnani: Ich habe auch den Eindruck, dass die Debatte im Ausland und Deutschland weit auseinander klaffen. Das liegt vor allem daran, dass die deutsche Diskussion sehr abgeschottet ist. Das gilt ganz besonders für wirtschaftliche Fragen, die hierzulande ganz anders begriffen und diskutiert werden. Der Philosoph Jürgen Habermas hat früher einmal von einem deutschen "DM-Nationalismus" gesprochen, eine besonderen Form des Nationalstolzes, der auf wirtschaftlicher Überlegenheit beruht. Diese Haltung hat sich zu einem "Exportfetisch" weiterentwickelt, ein nationales Selbstbewusstsein, das darauf beruht, der Exportweltmeister zu sein.

Ich bin mir bis heute nicht darüber klar geworden, woher diese besondere deutsche Haltung zu wirtschaftlichen Fragen eigentlich kommt. Liegt das an Interessen oder an der deutschen Ideengeschichte? Im angloamerikanischen Raum wird in diesem Zusammenhang oft auf die ordoliberale Tradition. Die Ordoliberalen hatten beispielsweise eine äußerst kritische Haltung zur Staatsverschuldung. Andere Kommentatoren betonen, dass die Bundesrepublik ein Land von Sparern ist, daher die verbreitete große Furcht vor und Abneigung gegen Inflation. Der deutsche wirtschaftspolitische Sonderweg hat also sowohl mit Ideen, als auch mit Interessen zu tun, wobei beides oft in einer ziemlich unehrlichen Art und Weise vermengt wird: Ordoliberale Argumente liefern die theoretische Begründung für die Interessen der Exporteure und Vermögensbesitzer.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.