Irak: Von der Moderne in die Steinzeit

Bild: © Samir / Dschoint Ventschr Filmproduktion 2014

Das irakische 20. Jahrhundert - Wie wenig wir wirklich wissen, das zeigt uns dieser Film: "Iraqi Odyssey"

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Selbstmordattentäter, ISIS-Terror, verschleierte Frauen, islamische Fundamentalisten - das ist in allen Köpfen. Aber dieser Irak ist anders. Ein atemberaubender Film: "Iraqi Odyssey". Der aus Bagdad stammende Schweizer Samir erzählt zwar scheinbar nur sehr liebevoll von seiner Familie, doch dabei erzählt er auch vom sehr besonderen irakischen 20.Jahrhundert. Von der Liebe zum Kommunismus, zur Freiheit. Und vom Bösen, von der Tyrannei der Kolonialmächte, der Religion, der Diktatur und des Geldes, die den Irak in den letzten 50 Jahren ins Mittelalter zurückgebombt haben.

Dieser trotz aller Schicksalshärte fröhliche Film zeigt einen Irak von außen, vom Exil aus, zusammengesetzt aus Erinnerungen, Bildern, Fragmenten der Diaspora, unter der Hand ein sehr orientalisches Mosaik, nostalgiesatt etwa durch die alte Musik. Der Film kommt in manchen Kinos in 3-D ins Kino - und ist auch technisch und stilistisch sehr anspruchsvoll.

Geben wir es doch einmal zu: Wir wissen eigentlich nichts. Wir, also wir Angehörige der weißen Mehrheitsgesellschaft Europas mit hugenottischem oder polnischem oder österreichischem oder preußischen Migrationshintergrund, wir wissen nichts wirklich über den Irak. Wir wissen auch kaum etwas über "die" Araber oder "den" Islam - auch wenn wir gern so tun, als ob - und uns pro Woche drei Talkshows und Brennpunkte zum Thema angucken.

Bild: © Samir / Dschoint Ventschr Filmproduktion 2014

Wie wenig wir wirklich wissen, das zeigt uns dieser Film. Er zeigt es auf aufregende, zudem überraschend unterhaltsame Weise. Und er zeigt, wie schnell sich alles im Leben ändern kann.

Vor über 50 Jahren konnte sich niemand in unserer Familie vorstellen, dass wir eines Tages über die ganze Welt verstreut sein würden. Als ich geboren wurde, war die Welt noch in Ordnung. Kurz darauf brach die Revolution aus. Es war eine aufregende Zeit.

Samir

Der, der hier erzählt, ist der Regisseur. Er heißt Samir, ist seit über 50 Jahren Schweizer und ein renommierter Regisseur, der sowohl Dokumentar- wie Spielfilme dreht. Sein neuer Film "Iraqi Odyssey" ist sein bisher persönlichster.

Bild: © Samir / Dschoint Ventschr Filmproduktion 2014

Hierin erzählt Samir, der in Bagdad geboren wurde und selbst im Alter von sechs Jahren mit seinen Eltern und Geschwistern aus dem Irak in die Schweiz auswanderte, vom Schicksal seiner großen Familie und damit natürlich auch vom sehr besonderen irakischen 20.Jahrhundert - von einem Land, das sich Europa zugewandt auf dem Sprung zur Moderne befand und dann durch die Tyrannei der Kolonialmächte, der Religion, der Diktatur und des Geldes,in den letzten 50 Jahren ins Mittelalter zurückgebombt wurde.

Am Anfang: Revolution

Es beginnt mit der Revolution, einem Aufbruch voller Hoffnung, dem engen Miteinander des Privaten und des Politischen. Für die Onkels und Tanten des Regisseurs und seine Eltern waren die 1950er Jahre eine gute Zeit. In dieser Epoche des Aufbruchs und der Hoffnungen glaubte fast jeder, allemal die Mehrheit im Irak und im ganzen Nahen Osten, an Fortschritt und Moderne.

Das galt vor allem für die irakischen Frauen - und en passent erzählt "Iraqi Odyssey" auch, dass manche gerade heute wieder beliebten Vorurteile über ungebildete und zurückgebliebene Frauenbilder in arabischen Ländern eben auch "Vor-"Urteile sind, also mindestens etwas einseitig und verzerrt, wenn nicht völlig irregeleitet.

Bild: © Samir / Dschoint Ventschr Filmproduktion 2014

Ein paar Mal pro Woche habe sie als Lehrerin unterrichtet, erzählt eine Tante des Regisseurs. Sie lehrte "die Geschichte der Menschheit von Anfang bis heute". So war das damals.

Regisseur Samir mischt derartige Interviewpassagen mit Einsatz von Animationstechnik, mit Ausschnitten aus Spiel- und Dokumentarfilmen und mit viel Musik - denn ihm geht es ja nicht zuletzt darum, einen sinnlichen Eindruck von Kultur und Geschichte des Irak zu geben. "Iraqi Odyssey" ist prachtvoll anzusehen, weil es sich um einen auch formal anspruchsvollen Film handelt.

Bild: © Samir / Dschoint Ventschr Filmproduktion 2014

Der Anfang vom Untergang dieses modernen Iraks begann vielleicht schon in der britischen Mandatszeit vor dem Zweiten Weltkrieg, spätestens aber, als das Land dann zwischen die Mühlen des Kalten Kriegs, zwischen Amerika und der Sowjetunion, geriet. Denn die modernen Eliten des Irak sympathisierten mit dem Kommunismus.

Aber diese Tanten und Onkel wurden weniger von der kommunistischen Ideologie inspiriert, denn von ihrem Wunsch, den Irak in die Moderne zu führen. Doch das Konzept der kapitalistisch-kybernetischen Moderne war durch den Westen besetzt.

Bild: © Samir / Dschoint Ventschr Filmproduktion 2014

So blieb nur die Annäherung an die Sowjetunion und ihren Alternativentwurf der staatlich-gesteuerten Planwirtschaft. "Paradoxerweise wurde meine Familie dadurch zu Feinden des Westens", so Samir, "obgleich sie dessen Kultur umfangreich kannten."

Die Rache der Amerikaner

Erst als wir der Partei beitraten, begriffen wir, worum es ging. Bis dahin wussten wir nur, dass die kommunistische Partei dem Volk hilft, den Armen, den Bauern, den Arbeitern, und für uns Freiheit bedeutet. Wir kannten nur diese Kurzfassung, keine Details.

Die Amerikaner rächten sich für den Seitenwechsel der Iraker, und der Aufbruch endete mit der Tyrannei Saddam Husseins, der zu Anfang seiner Herrschaft ja - auch das vergisst man leicht - ein Hätschelkind des Westens war und ein williger Vollstrecker amerikanischer Rachegelüste im Krieg gegen den Iran des Ayatollah Khomeini.

Bild: © Samir / Dschoint Ventschr Filmproduktion 2014

"Iraqi Odyssey" ist ein trauriger, liebevoller, schöner, melancholischer, anrührender, kluger und sehr sehr ungewöhnlicher Film. Ein Film, der vor allem von der Liebe handelt. Und ein Film, der vielleicht etwas Verständnis und Humanität weckt für all die Geschichten, die hinter dem stecken, was wir heute pauschal die "Flüchtlingsdebatte" nennen.

Über vier Millionen Irakis leben heute über die ganze Welt verstreut. Über vier Millionen Geschichten. Und die meiner Familie ist nur eine davon.

Samir