Tschetschenien, Russland und das "Kalifat"

Putin mit Ramsan Kadyrow im Dezember 2015. Bild: Kreml

Ein Erklärungsversuch

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Der "Islamische Staat" gewinnt tagtäglich neue Anhänger. Immer noch zieht es zahlreiche junge Männer nach Syrien oder in den Irak, um für das selbsternannte Kalifat zu kämpfen. In Österreich betrifft das vor allem Personen mit tschetschenischen Wurzeln. Des Öfteren wurden mehrere junge Tschetschenen an der Grenze angehalten sowie ihre Kriegspläne vereitelt. Die Frage, warum schon so viele von ihnen vor Ort sind und sich an grausamen Massaker beteiligen, steht jedoch weiterhin im Raum.

Hamzat und seine Familie kamen 2004 nach Österreich. In Innsbruck, wo sie sich ihr neues Leben aufgebaut haben, hat sich mittlerweile eine bemerkenswerte tschetschenische Gemeinde gebildet. Dass einige wenige Mitglieder dieser Gemeinde sich mittlerweile im Krieg in Syrien oder im Irak befinden, ist ein offenes Geheimnis, von dem auch Hamzat weiß. Für den 20-Jährigen ist es nicht nachvollziehbar, warum einige seiner Landsmänner unbedingt in den Krieg ziehen wollen, obwohl sie vor einem anderen Krieg geflüchtet sind. Die meisten tschetschenischen Familien haben ihre Heimat während des Ersten und Zweiten Tschetschenien-Krieges verlassen.

Mit dem gegenwärtigen Konflikt im Nahen Osten haben diese beiden Kriege mehr zu tun, als man glauben mag. Moskaus Interventionen in der Teilrepublik waren vor allem von Brutalität geprägt. Die beiden zuständigen Staatschefs - anfangs Boris Jelzin, später Vladimir Putin - tolerierten den Blutrausch sowie die Zerstörungswut ihrer Soldaten. 2003 wurde Grosny, die Hauptstadt Tschetscheniens, von den UN als "am meisten zerstörte Stadt der Erde" deklariert.

Viele russische Kriegsverbrechen, die vor allem von Journalisten wie der ermordeten Anna Politkowskaja ans Licht gebracht wurden, sind heute schon längst vergessen. Eine Aufklärung lag nie im Interesse des Kremls. Kriminelle Soldaten wurden schon anfangs von ihren Vorgesetzten beschützt. Folter, Vergewaltigung und Massenmord - Verbrechen, wie man sie auch seitens der US-Truppen im Irak oder in Afghanistan kennt - wurden stillschweigend hingenommen.

Die EU hat sich alles andere als ehrenwert verhalten

Auch Hamzat, damals noch ein kleines Kind, hat viele dieser Verbrechen erlebt. Er sah, wie Kinder ihre Väter suchten oder wie Frauen um ihre Ehemänner weinten. "Es gab Säuberungsaktionen. Männliche Personen, auch Kinder und Jugendliche, wurden einfach verschleppt und hingerichtet. Wenn man so etwas als Kind erlebt, merkt man erst Jahre später, was dort wirklich geschah", erzählt Hamzat heute.

Zahlreiche Familien suchen noch heute nach ihren Verwandten. Viele von ihnen wurden höchstwahrscheinlich in Massengräbern verscharrt. Man hat sie einfach aus der Geschichte getilgt. Die Europäische Union hat sich während dieser Konflikte alles andere als ehrenwert verhalten. Von jenen Werten, von denen meist gesprochen wird, fehlte jede Spur. Es gab keine Sanktionen gegen Russland, sondern höchstens mahnende Worte. Man zog das russische Erdgas, von dem man sich abhängig gemacht hatte, vor. Die Tschetschenen wurden vergessen.

Als Reaktion auf die russische Brutalität entstanden zahlreiche extremistische Gruppierungen, die ihre Rache in Form von Terroranschlägen nahmen. Dank der Gewalt des Kremls konnte religiöser Extremismus im Kaukasus Fuß fassen. Gewalt wurde mit Gewalt erwidert. Fast jeder Tschetschene hat Familienmitglieder während der zwei Kriege verloren. Viele Tschetschenen gibt es jedoch schon lange nicht mehr. Gegenwärtig schätzt man sie auf zwei bis drei Millionen. Das nordkaukasische Volk wurde schon von Stalin gejagt, deportiert und ermordet. Jahrzehnte zuvor war es der Unterdrückung der Zaren ausgesetzt. Damals, im 19. Jahrhundert, riefen tschetschenische Führer wie der berühmte Imam Schamil den "Heiligen Krieg" gegen das Zaren-Reich aus und organisierten den Widerstand gegen die russische Eroberung des Nordkaukasus.

Im 21. Jahrhundert, sprich, vor wenigen Jahren, kam es in Tschetschenien erst zur Ruhe, nachdem Achmat Kadyrow, ein Mann Moskaus, nach einer umstrittenen Präsidentschaftswahl im Jahre 2003 zum Präsidenten gekürt wurde. Im darauffolgenden Jahr wurde Kadyrow von einer Bombe getötet. Kurz darauf wurde er von Putin, zu dem er freundschaftliche Beziehungen pflegte, zum "Held der Russischen Föderation" ernannt. Für Kadyrows Ermordung machte man den tschetschenischen Extremisten Schamil Bassajew verantwortlich.

Kadyrows Juniors Terrorherrschaft

Seit einigen Jahren wird das Land von Kadyrows Sohn, Ramsan, geführt. Den westlichen Medien ist Kadyrow Junior aufgrund seiner pompösen Partys, zu denen er gerne Hollywood-Stars einlädt, bekannt. Ansonsten weiß man über Ramsan Kadyrow, dass er gerne persönlich Hand anlegt beim Foltern. Seine berühmt-berüchtigten Milizen sind bekannt dafür, junge Frauen nach Lust und Laune zu verschleppen.

Dass der junge Tyrann seine Feinde auch im Ausland jagen und töten lässt, ist spätestens seit der Ermordung des Flüchtlings Umar Israilow, der 2009 in Wien auf offener Straße erschossen wurde, klar. Israilow, einst ein Bodyguard Kadyrows, wollte bezüglich der Kriegsverbrechen des Zweiten Tschetschenien-Kriegs vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aussagen. Berichten zufolge landete er auf eine "Todesliste" Ramsan Kadyrows, auf der sich zahlreiche Kritiker des Kadyrow-Regimes befinden sollen. Man geht davon aus, dass die Ermordung Israilows auch vom Kreml abgenickt wurde.

An der Unterdrückung der Tschetschenen hat sich bis heute nichts geändert. Viele Flüchtlinge wissen, dass sie der Tod erwartet, sobald sie in ihre Heimat zurückkehren. Radikale Gruppierungen haben sich das Leid der Tschetschenen schon längst zu eigen gemacht. Der "Islamische Staat" ist diesbezüglich nicht anders. Tschetschenische Kämpfer gelten als kampferprobt und loyal. Viele von ihnen haben schon in Afghanistan gegen die Russen gekämpft. Nicht selten besetzen sie hohe Posten.

Assad wird mit Putin assoziiert

Dass der IS immer mehr junge Tschetschenen, oft sind sie nicht älter als Hamzat, anzieht, mag mehrere Gründe haben. "Viele von denen haben das Gleiche erlebt wie ich. Sie haben all diese Verbrechen miterlebt, jedoch konnten sie diese nie verarbeiten. Das nennt man dann wohl traumatisiert", mutmaßt Hamzat heute.

Der IS weiß, wie er mit den Gemütern dieser jungen Menschen umzugehen hat. In den zahlreichen Propagandavideos, die im Internet verbreitet werden, werden nicht nur die USA oder Großbritannien als Feind genannt, sondern auch Russland, welches mit dem Assad-Regime in Syrien verbündet ist. Alles wird in einem Topf geworfen.

Tschetschenische Kämpfer assoziieren Putin mit Assad. Und schon hat man wieder all das Leid, was man einst in der Heimat erlebt hat, vor Augen. Dem Hass, der sich über all die Jahre entwickelt und nun geschickt instrumentalisiert wurde, kann man nun freien Lauf lassen - ob nun gegen syrische Soldaten oder gegen schiitische Zivilisten, die ja irgendwas mit dem Iran, der auch mit dem Kreml verbündet ist, zu tun haben müssen. "Dazu - und deshalb verlassen diese Leute vielleicht das Land - kommt noch die Tatsache, dass viele von 'uns' von der österreichischen Gesellschaft gar nicht akzeptiert werden. Am Ende fühlt man sich fremd und will weg", fügt Hamzat hinzu. Auch hier weiß die Propagandazentrale des IS, wie sie zu agieren hat. "Kommt zu uns, die wollen euch sowieso nicht, weil ihr anders seid, ja, weil ihr Muslime seid!", ist die Botschaft, die vermittelt werden soll.

Es sind diese Dinge, die in gegenwärtigen Diskussionen oftmals außer Acht gelassen werden. Zu selten wird die Frage gestellt, warum sich junge Menschen radikalisieren. Ihr Hintergrund, sprich, was sie erlebt haben, ob sie womöglich von anderen Kriegen traumatisiert sind oder ob sie sich von der europäischen Gesellschaft verstoßen fühlen, wird nicht oft zum Thema gemacht. Dass bei genauem Hinschauen die eigenen Fehler deutlich werden, könnte einer der Gründe dafür sein. Was wäre gewesen, wenn der Westen das Leid der Tschetschenen nicht ignoriert hätte? Wo würde man heute stehen, wenn man diese Menschen schon früher in die Gesellschaft eingebunden, ja, sich um sie gekümmert hätte?

Hamzat spricht wie die meisten jungen Tschetschenen fehlerfreies Deutsch. Die meisten von ihnen fallen aufgrund ihrer europäischen Gesichtszüge kaum auf der Straße auf. Sie haben nicht diesen "Ausländer-Effekt", den eher Araber, Afghanen oder Türken mittragen und deshalb auch oft beäugt werden oder in Polizei-Kontrollen geraten. Umso mehr fragt man sich, was bei einigen von ihnen falsch gelaufen ist. Solange man sich diese Frage nicht ehrlich stellt, werden noch mehr junge Menschen in den Krieg ziehen und Europa wird noch mehr Kinder verlieren.