Ex-Verfassungsrichter kritisieren Merkel

Neben Udo di Fabio sorgen sich auch Hans-Jürgen Papier und Michael Bertrams um den Rechtsstaat

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Am 12. Januar ging ein Gutachten des ehemaligen Verfassungsrichters Udo di Fabio online, das dieser im Auftrag der bayerischen Staatsregierung verfasst hatte. Der Bonner Juraprofessor kommt darin zum Ergebnis, dass die Bundeskanzlerin die Grenzen zwar kurzfristig unter Rückgriff auf einen "Notstand" öffnen durfte, dass aber solch eine Maßnahme nur "punktuell" und "auf wenige Tage beschränkt […] zu rechtfertigen gewesen wäre. Für eine "längere oder gar dauerhafte Außerachtlassung des geltenden Rechts" gibt es so eine Rechtfertigung nicht (vgl. Gutachten: Klage gegen Merkels Einlasspolitik hätte gute Chancen).

Die Kanzlerin hat di Fabio zufolge eine "wesentliche Entscheidung […] ohne gesetzliche Grundlage getroffen" - ohne Rücksicht darauf, dass die Kompetenzen dafür dem Grundgesetz nach, nicht bei ihr, sondern bei Bundestag und Bundesrat liegen. Besteht die Bundesregierung weiterhin darauf, die Zuwanderer als Asylbewerber zu werten, dann muss sie di Fabio nach zu den rechtmäßigen Verfahren zurückkehren. Will sie das nicht, muss sie den europäische Flüchtlingsbegriff anwenden, der die Festsetzung einer "Kapazitätsgrenze" verlangt.

Grundlage der Überlegungen des ehemaligen Verfassungsrichters ist unter anderem, dass die Politik der Bundesregierung die Handlungsoptionen von Ländern und Kommunen nicht unangemessen einschränken darf. Dass sie derzeit genau das macht, zeigte die Reaktion des Regierungssprechers Steffen Seibert auf die 31 Syrer, die der Landshuter Landrat Peter Dreier am Donnerstag Abend nach Berlin fahren ließ, weil er keine Asylbewerber mehr unterbringen kann. Für deren Unterbringung, so Seibert trocken, sei nicht der Bund zuständig.

Hans-Jürgen Papier. Bild: Wikipedia / Tobias Klenze / CC-BY-SA 3.0.

Hans-Jürgen Papier, der von 2002 bis 2010 Präsident des Bundesverfassungsgerichts war, beklagte im Handelsblatt ein "eklatantes Politikversagen", Rechtsbrüche und Kompetenzüberschreitungen in einem nie dagewesenen Ausmaß und eine "Sprengung" der "Leitplanken des deutschen und europäischen Asylrechts". Das stellt seiner Ansicht nach das Funktionieren des Verfassungsstaates in Frage, der "durch die Politik nicht aus den Angeln gehoben werden" dürfe.

Papier postuliert eine "zentrale Verpflichtung, Gefahren entgegenzutreten, die durch eine dauerhafte, unlimitierte und unkontrollierte Migration in einem noch nie da gewesenen Ausmaß entstehen können". Außerdem sieht er eine politische Pflicht zu einem Paradigmenwechsel in der Asylpolitik und zum sofortigen "Umsteuern", weil die Angriffe auf Frauen und den Kölner Dom in der Silvesternacht "ein partielles Versagen des Staates als Garant von Freiheit und Sicherheit gegenüber seinen Bürgern" belegen. Eine taugliche neue Asyl- und Flüchtlingspolitik muss seiner Meinung nach illegale Einreisen unterbinden und "zwischen dem individuellen Schutz vor Verfolgung einerseits und der gesteuerten Migrationspolitik für Wirtschaftsflüchtlinge andererseits […] unterscheiden".

Michael Bertrams, der von 1994 bis 2013 Präsident des Verfassungsgerichtshofs für das Land Nordrhein-Westfalen und des nordrhein-westfälischen Oberverwaltungsgerichts war, spricht in einem Gastbeitrag für den Kölner Stadtanzeiger sogar von einer "Selbstermächtigung" der Kanzlerin, mit der diese Einlassregeln außer Kraft setzte und den Rechtsstaat in Frage stellte. Dass er mit dem Begriff an dunkle Zeiten erinnert, ist dem Mitglied der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche von Westfalen wahrscheinlich bewusst.

Grüner Fischer lobt Merkel

Eine Reaktion auf diese Kritik der drei Verfassungsrichter kam bislang nicht von Merkel selbst, sondern vom ehemaligen Außenminister Joseph Fischer. Der Grünen-Politiker meint in der Phoenix-Sendung Im Dialog, die heute Abend um 22 Uhr 30 ausgestrahlt wird, die Einwanderung sei eine politische und keine verfassungsrechtliche Frage, weshalb sich die Juristen, die der Bundeskanzlerin Verfassungsbruch vorwerfen, "mehr zurückhalten" sollten. Das Lob des Grünen-Politikers für die Kanzlerin gipfelt in der rhetorischen Frage: "Wenn sie morgen nicht mehr Kanzlerin wäre, wer sollte denn ihre Rolle in Europa übernehmen?"

Anders äußerte sich Fischers ehemaliger Vorgesetzter Gerhard Schröder. Er sagte dem Handelsblatt, der Glaube, dass die "Kapazitäten bei der Aufnahme, Versorgung und Integration von Flüchtlingen in Deutschland" keine Grenzen hätten, sei eine "Illusion" und Merkels unbegrenzter Einlass ein "gefährlicher" Fehler.

AfD im Aufwind

Ohne direkte Bezugnahme auf die Seite der Verfassungsjuristen schlug sich auch die Schriftstellerin Monika Maron, die in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung fordert, dass dem "leichtfertig gebrochenem Recht" wieder Geltung verschafft wird. Das kann nach Ansicht der in der DDR aufgewachsenen Autorin nicht der derzeit "lahmgelegte Parlamentarismus", sondern nur das Volk selbst:

Wenn die eigene Partei der Kanzlerin die Gefolgschaft versagt, springt die Opposition für sie ein. Warum gehen wir nicht wie die freiheitsliebenden Polen auf die Straße, um von der Regierung zu fordern, dass sie das Gesetz nicht bricht?

Ändert sich nichts, wird das Marons Einschätzung nach unter anderem der AfD nützen. Aktuelle Umfragen deuten darauf hin, dass die Partei bei den drei Landtagswahlen am 13. März in drei neue Parlamente einzieht: In Sachsen-Anhalt liegt sie bei 15 Prozent nur vier Punkte unterhalb der Sozialdemokraten und der Linken, die dort auf 19 Prozent kommen. Stärkste Partei wird sehr wahrscheinlich die CDU, die die Forschungsgruppe Wahlen bei 33 Prozent misst. Die Grünen müssen mit fünf Prozent um den Einzug in den Landtag bangen.

In Baden-Württemberg würde die AfD einer Infratest-Umfrage nach mit zehn Prozent in den Landtag einziehen, wenn jetzt gewählt würde. Die SPD bekäme mit 15 Prozent keinen sehr viel höheren Stimmenanteil. Stärkste Partei würde trotz eines Verlusts von zwei Prozent im letzten Monat die CDU, die mit 35 Prozent sieben Punkte vor den regierenden Grünen läge. Die FDP muss mit sechs Prozent auch in ihrem Stammland um den Parlamentseinzug bangen. Die Existenz einer angeblich von der CDU in Auftrag gegebenen aber unter Verschluss gehaltenen Umfrage, über die die Bild-Zeitung berichtete, wird von den Christdemokraten bestritten. Sie soll die AfD bei 15 und die CDU nur bei 32 Prozent sehen.

Den niedrigsten Wert erreicht die AfD mit acht Prozent in Rheinland-Pfalz. Hier führt die CDU mit 37 Prozent vor der aktuell regierenden SPD, die von Infratest bei 31 Prozent gemessen wird. Weil die Grünen nur auf acht Prozent kommen, würden die Sozialdemokraten ihre Regierungsmehrheit klar verlieren. Ob die bei jeweils fünf Prozent liegenden Liberalen und Linken in den Mainzer Landtag einziehen werden, ist unklar.

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